Lieber Häuptling Süße Sau

Literatur In Gerhard Henschels „Künstlerroman“ sehnt sich Martin Schlosser nach Autorenruhm in Oldenburg

Ob Gerhard Henschels Protagonist Martin Schlosser hier wohl mit dabei war? Schließlich trampte er im „Künstlerroman“ auch von Westberlin nach Westdeutschland Foto: ap/Ullstein Bild

von Gerd Busse

Wenn sich zwei Martin-Schlosser-Fans treffen, dauert es keine fünf Minuten, und sie schwelgen in Erinnerungen an die Abenteuer des sympathischen Roman-Tunichtguts. Etwa an die Diebeszüge des vorpubertären jungen Mannes durch die Spielzeugläden der Stadt, um die heimische Matchbox-Flotte aufzurüsten. Oder an das (misslungene) Vorhaben, Opas „Stereobrille“ für die lebensnahe Betrachtung von „Ferkelheftchen“ umzufunktionieren. Oder an die ersten tapsigen Versuche, bei der Damenwelt zu landen (legendär: der „Strickkurs“ bei der aufreizenden Mona Feddersen). In solchen Kreisen stößt man Martin Schlosser zu Ehren mit dessen Lieblingsgesöff – „Emslandfeuer“ – an und hält sich ansonsten an den Wahlspruch seines weisen und etwas sprachbehinderten Fahrlehrers: „Langfam kommen laffen!“

Martin Schlosser ist die Hauptfigur mehrerer faustdicker Romanbände – und das Alter Ego seines Schöpfers Gerhard Henschel. Er ist wie dieser 1962 geboren und wächst im emsländischen Meppen auf, „einer der elendesten Außenstellen der abendländischen Kultur“, wie es einmal heißt. In kurzen, von zahlreichen Zitaten aus Literatur, Presse, Briefen, Liedtexten und Werbung durchsetzten Episoden wird in der Art eines Schelmenromans akribisch sein Leben vom Tag seiner Bewusstwerdung an geschildert. Das Ganze entwickelt dabei solch einen Sog, dass man gar nicht mehr aufhören kann, den Umtrieben Martin Schlossers zu folgen, und sehnsüchtig das Erscheinen des Folgebandes erwartet.

Nun ist es zum Glück wieder einmal so weit – soeben ist, nach dem „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“ und „Bildungsroman“, der sechste Band der Romanchronik unter dem Titel „Künstlerroman“ erschienen. Die Handlung setzt 1985 ein: Martin Schlosser, inzwischen 23 Jahre alt, studiert in Berlin – mehr schlecht als recht – Germanistik, Soziologie und Philosophie. Sein Problem: Freundin Andrea, Studentin der Sozial­pädagogik mit Hang zu Rohkost, Selbsterfahrung und Esoterik, lebt weit entfernt in Aachen – zu weit, um ein wachsames Auge auf sie und ihren Exlover Ergün haben zu können, der sich immer noch um Andrea bemüht, zusammen mit eine Reihe weiterer Kerle, die sie umschwirren wie die Motten das Licht.

Da das Studium in Berlin für Martin ohnehin nicht das Wahre ist – so versucht er vergeblich, den Kryptosprech seines Professors Dietmar Kamper zu entschlüsseln (Texte, die wirkten, „als schielten sie“) oder sich für ein Germanistikseminar durch Joseph Roths „Radetzkymarsch“zu quälen (“So viele harte, abstoßende Hauptwörter: […] mir lähmte das die Augen“) –, entschließt er sich, zu seiner Liebsten nach Aachen zu ziehen, um in Köln (!) weiterzustudieren. Der Plan ist, jeden Tag hin- und herzutrampen. Das Studium wird dadurch natürlich auch nicht intensiver, so dass er schließlich den Entschluss fasst, es ganz zu schmeißen, mit Andrea nach Oldenburg zu ziehen, sich dort einen Brotjob zu suchen und ein berühmter Schriftsteller zu werden. Er bekommt erste kleine Schreibaufträge und führt ansonsten mit Andrea ein bettelarmes, aber glückliches Künstlerleben. So weit zum groben Handlungsgerüst.

Es sind hauptsächlich drei Dinge, die Martin Schlosser so unwiderstehlich machen. Zum einen ist es die Tatsache, dass er ein Typ wie du und ich ist und somit zur Identifikation einlädt: Im Kern ein guter Kerl, verfolgt er stets die besten Absichten, scheitert dabei jedoch immer wieder auf zum Teil groteske und damit höchst unterhaltsame Weise. So will er Andrea einmal mit etwas Selbstgekochtem überraschen. „Etwas Bezwingendes sollte es werden, ein vegetarischer Auflauf, eine Vitaminbombe, die sich gewaschen hatte.“ Doch die Sache brennt ihm an. Also lädt er sie, die Vegetarierin, zum Griechen ein (ausgerechnet), muss sie aber vorher noch um das Geld dafür anpumpen, weil er selbst einmal wieder klamm ist – „und das war nicht so ganz das, was sie erwartet hatte.“

Madonna ist „Pupsi-Pop“

Ein zweiter Grund ist seine wohltuende political incorrect­ness: Martin Schlosser sagt, was er denkt. So ist Madonna für ihn „Pupsi-Pop“ und türkisches Liedgut „Jibbelmusik“, die türkische Sprache selbst, findet er, habe einen „felsigen und krähwinkligen Klang“. Der Film „Blade Runner“ ist ein „erzlangweiliger, mit uninteressanten Spezialeffekten aufgebrezelter Science-Fiction-Kitsch“, und nach einer Besichtigung der Kreuzigungsdarstellungen im Madrider Prado leidet sein Sehnerv unter „Kruzifixverstopfung“. Auch politisch ist er ein Mann klarer Worte: „Ich hielt ja nun wahrlich wenig von Kohl oder Reagan […], aber der Ayatollah Chomeini schien mir doch der mit Abstand niederträchtigste und gemeinste Lump zu sein, der irgendwo herumregierte. […] Im Grunde eine arme Sau, nur eben eine mit der Lizenz zum Töten.“

Der dritte Grund schließlich ist der hohe Wiedererkennungseffekt, zumindest für diejenigen, die die beschriebenen Jahre selbst mitgemacht haben. Es darf noch geraucht werden, was die Lunge hergibt (obwohl sich mit dem Rauchverbot in der Wohnstube der Schlossers bereits der Zeitenwandel anbahnt), man schreibt sich noch richtige Briefe, vorzugsweise per Hand (obwohl auch hier schon mal auf einer todschicken neuen elektronischen Schreibmaschine mit Korrekturtaste gearbeitet wird), und wenn einen die Reiselust packt, hält man den Daumen in den Wind. Gerhard Henschel gelingt es dabei, mit unzähligen Verweisen auf Sprachmoden („Eumel“, „Kikifatz“, „der Martin“), Bücher und Songs, die gerade in sind (Deth­lefsen: „Krankheit als Weg“, Bots: „Sieben Tage lang“), Themen, die die öffentliche Diskussion beherrschten (Tschernobyl, die Barschel-Affäre, Bhagwan), Filme, Fernsehserien usw. ein so dichtes Zeitmosaik zu verlegen, dass es den Leser förmlich in die Vergangenheit zurückkatapultiert.

Aha-Effekte lösen auch die vielen, längst vergessenen und locker im Text verstreuten Werbeslogans aus, etwa die Knüppelreime der Firma Paech, an die sich Westberliner U-Bahn-Reisende der 80er Jahre noch mit Grausen erinnern: „Der Orje fragt den Kulle, haste nicht ’ne Paech-Brot-Stulle?“

Freundin Andrea, Studentin der Sozialpädagogik mit Hang zu Rohkost, Selbsterfahrung und Esoterik, lebt weit entfernt in Aachen – zu weit, um ein wachsames Auge auf sie und ihren Exlover Ergün zu haben

Einen besonderen Genuss bieten im „Künstlerroman“ die Briefe Andreas an ihren „Schnurpsel“ Martin, in denen sie ihm ihre aktuellen Gefühlslagen schildert, die Beziehung reflektiert, freimütig von ihren Abenteuern mit Ergün, Tarik oder einem gewissen „Naturheilkundemartin“ berichtet und was er es mit ihr „gemacht“ hat – Briefe, die anfangen mit „Lieber Häuptling Süße Sau“ und „Mit geilen Grüßen“ enden. Diese Briefe sind so liebenswert und anrührend, dass man dem Paar noch viele gemeinsame Jahre wünscht und mit Argusaugen den Eintritt der attraktiven Lydia in das Leben Martin Schlossers verfolgt: „Ich malte mir aus, wie es wäre, ihr aus ihrem engen Top herauszuhelfen, ihren Schwanenhals mit Küssen zu bedecken und mit ihr auf einer rosa Wolke zu entschweben.“

Mit geilen Grüßen

Der „Martin Schlosser“-Zyklus Gerhard Henschels erinnert in vielen Punkten an den siebenbändigen autobiografischen Schlüsselroman „Das Büro“ des Niederländers J. J. Voskuil, dessen dritter Band „Plankton“ gerade auf Deutsch erschienen ist. Die Ähnlichkeit beginnt bereits beim Vornamen der Haupt­figur, Maarten Koning. Der Roman beschreibt minutiös dessen beruflichen Werdegang an einem Amsterdamer „Büro“ für Volkskunde – jenem Büro, an dem Voskuil selbst dreißig Jahre gearbeitet hat und das sich mit so obskuren Forschungsthemen wie „Wichtelmännchen“ oder der „Nachgeburt des Pferdes“ beschäftigt. Beide Romane sind in Form einer Collage aufgebaut – eine Technik, die ­Henschel sich bei Walter Kempowski abgeschaut hat, einem Autor, dem auch Voskuil zugetan war.

Und beide sind durch die authentische Schilderung des Alltags- bzw. Arbeitslebens und den (selbst)kritisch-ironischen Blick der Hauptfiguren darauf so kurzweilig und amüsant, dass man sie wieder und wieder lesen möchte. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass „Das Büro“ mit dem siebten Band endet, während Martin Schlosser munter weiterlebt. Wir wünschen ihm – und seinem Autor Gerhard Henschel – noch ein langes, produktives Leben.

Gerhard Henschel: „Künstlerroman“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 573 Seiten, 25 Euro

Gerd Busse ist der deutsche Übersetzer von J. J. Voskuils ­Romanprojekt „Das Büro“ (Verbrecher Verlag)