Immer da, wo ihn keiner vermutet

Das Total Music Meeting präsentiert den Trompeter Leo Wadada Smith, eine der originellsten Stimmen des amerikanischen Free Jazz. Er entwickelte neue Formen der Improvisation, die freies Spiel entlang kompositorischer Vorgaben ermöglichen

VON FELIX KLOPOTEK

Ein Sound, der sich vom ersten Moment an flächig ausbreitet, zerfließt und doch von einer merkwürdigen, untergründigen, aber sehr spürbaren Spannung angetrieben wird – das war, vor 25 Jahren, innerhalb der Jazz-Szene und der Improvisierten Musik eine Sensation. Es war die Musik von Peter Kowald, dem Wuppertaler Bassisten, dem Dresdner Schlagzeuger Günter Sommer und Wadada Leo Smith, Trompeter, Multiinstrumentalist und Komponist aus Chicago: Trance ohne Hippie-Beigeschmack, Ambient ohne Elektronik, Free Jazz ohne die Powerplay-Ästhetik, die man mit dieser Musik immer noch (und meistens zu Recht) assoziiert, Improvisationen, die so klingen wie postserielle Kompositionen.

Sensationell waren auch die äußeren Koordinaten des Trios – Sommer kam aus der DDR, Smith war (und ist natürlich immer noch) Bürger der USA. Kowald und Sommer gehörten einer europäischen Szene von freien Improvisatoren an, die sich zumindest verbal vom afroamerikanischen Free Jazz abgrenzten; Smith entstammte der Chicagoer AACM (Association for the Advancement of Creative Musicans), einer schwarzen Musikerorganisation, die sich ihre eigene Kunstmusik schuf, ihrerseits scharf abgegrenzt von europäischer Neuer Musik und den üblichen Free-Jazz-Klischees. Dass die drei zusammenkamen, scheint weniger mit einem Pool an gemeinsam geteilten Überzeugungen zu tun zu haben als mit Neugier: Wie würden wir wohl zusammen klingen?

Für die Musik von Wadada Leo Smith ist das prägend: Sie ist meistens da, wo man sie nicht vermutet, das aber mit bemerkenswerter Konsequenz. Nicht das Naheliegende wird gesucht, sondern das Überraschende gefunden. Er geht von einem Standpunkt aus, um ihn im Laufe eines Arbeitsprozesses aufzuheben (nicht: aufzugeben und ihn aus den Augen zu verlieren).

Seine vielleicht wichtigste Komposition „Reflectativity“, sie stammt bereits aus den frühen Siebzigerjahren, geht von strukturellen Vorgaben aus, die im Spielprozess in einen improvisatorischen Prozess überführt werden – John Zorn hat mit seinen Game Pieces später Ähnliches versucht. Das Trio mit Kowald und Sommer funktionierte umgekehrt: Ausgangspunkt ist der Wille zur freien Improvisation; gespielt wird die Musik mit einer Strenge und Konzentration, die man viel eher mit Neuer Musik assoziiert. Sein Trompetenspiel ist gestochen klar und wenig geräuschlastig. Dagegen sind, vor allem in späten Sechzigern, seine Gruppen (die so schöne Namen trugen wie Creative Construction Company) einer konsequenten Geräuschästhetik verpflichtet.

Auch (musik-)politisch setzt sich das fort: Die AACM setzt auf schwarze Autonomie. Smith, 1941 in Leland (Mississippi) geboren, zählt zur zweiten Mitglieder-Generation (wie seine berühmten Kollegen Anthony Braxton und Henry Threadgill) und war Schüler Muhal Richard Abrams, eines der AACM-Begründer. Smith sollte später selbst Lehrer werden, zu seinen bekanntesten Schülern zählen allerdings zwei weiße Musiker: Eugene Chadbourne und John Zorn. Mitte der Siebziger unterrichte er an Karl Bergers Woodstocker Creative Music Studio, wo er auf die beiden junger New Yorker traf.

Formal am radikalsten ist „Yo Miles!“, das seit Mitte der Neunzigerjahre gemeinsame Projekt Smiths und des Gitarristen Henry Kaiser. Es widmet sich, nomen est omen, dem Werk von Miles Davis, genauer: der Rekonstruktion seines von Stockhausen und Sly Stone geprägten Space Jazz, den Davis von 1969 bis 1975 spielte. Smith und Kaiser lieben die akribische Aufarbeitung, die damals komplett ausgefreakte Musik wird mitunter sklavisch nachgespielt. Kaiser und Smith haben ihre Band so aufgestellt, dass sie exakter und professioneller klingt als das Davis-Ensemble der mittleren Siebzigerjahre. Überhaupt die Band: Es ist eine einmalige Zusammenstellung aus Altavantgardisten wie Saxofonist John Tchicai und dem ROVA Sax Quartett, Neo-Jazz-Stars wie Greg Osby und schmierigen Studiomuckern wie Ex-Zappa-Gitarrist Mike Keneally. Was sich auf dem Papier unverträglich liest, funktioniert auf der Bühne in perfekter Arbeitsteilung. Davis hat zu Lebzeiten kein gutes Haar an der ihm nachfolgenden Generation der Free Jazz und Neutöner gelassen. Die Geste, mit der Smith ihn in seinen Kanon zurückholt, grenzt an Selbstverleugnung. Ist aber konsequent, denn Smith streicht in seiner Beschäftigung mit Davis drei grundlegende Elemente seiner eigenen Arbeit heraus – ungewöhnliche kompositorische Vorgaben, die zu freien Improvisationen führen und von einer inneren wie äußeren Disziplin getragen werden.

In Berlin wird Smith wieder auf Sommer treffen und auf den Bassisten Barre Philips. Kowald starb vor drei Jahren überraschend. Philips ist kein Ersatz für Peter Kowald, sondern eine der eigenständigsten Stimmen der Free-Jazz-Szene. Er hat mit Archie Shepp, Jimmy Giuffre, John Surman und nicht zuletzt Kowald gespielt hat. „Touch the Earth – Break the Shells“, so wird das Trio angekündigt, so hießen die Alben, die Smith, Sommer und Kowald 1979 bzw. 1981 einspielten. Das alles klingt für jemanden wie Smith geradezu rückwärts gewandt. Aber es geht ja darum, Kowalds zu gedenken. Und auch das gehört konstitutiv zum Radikalismus Smiths: die Pflege der Tradition.

Total Music Meeting, von morgen bis Sonntag in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstr. 124–128. Leo Wadada Smith spielt am Donnerstag ein Solokonzert und am Freitag mit Philips und Sommer. Weiterer Höhepunkt: die Premiere des Cecil-Taylor-Dokumentarfilms „All The Notes“ am Sonntag um 11.30 Uhr. Um 15 Uhr tritt Taylor auch auf. www.fmp-online.de