Zur Stille hin

Vielfältige und geistreiche Meditation über das Alter: Julian Barnes’ Erzählsammlung „Der Zitronentisch“

Wenn die Literatur ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann wird sie, zumindest was die Abbildung demografischer Realität angeht, mehr und mehr zum Zerrspiegel. Während sich die Bevölkerungspyramide unaufhaltsam auf den Kopf stellt, klammert sich der hiesige Literaturbetrieb an einen Babyboom nach dem anderen. Benjamin Lebert und Alexa Hennig von Lange sind zwar längst volljährig, dafür aber hat der Heyne Verlag jetzt Johanna Driest entdeckt und aus deren im Alter von dreizehn Jahren angefertigten Tagebüchern einen Roman gefertigt: „Crazy for love“.

Höchste Zeit also, das Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplott“ ein belletristisches Gegenstück bekommt. Der englische Schriftsteller Julian Barnes bringt dafür die richtigen Voraussetzungen mit. Selbst Jahrgang 1946, Verfasser von zahlreichen Erzählungen, Essays und Romanen, kommt Barnes kaum mehr in den Verdacht des Jungschriftstellertums. Er, dessen Romanessay „Flauberts Papagei“ Pflicht-Schullektüre sein sollte, muss sich nicht mehr beweisen und kann sich in Ruhe der Frage des Alterns widmen.

Da Barnes zu den Schriftstellern gehört, in denen der Essayist und der Fabulierer ein ständiges freundliches Kräftemessen aufführen, kann man seine Erzählsammlung „Der Zitronentisch“ einerseits als abwechslungsreiche und vergnügliche Unterhaltung lesen, andererseits aber auch als vielfältige und geistreiche Meditation über das Alter und den Umgang mit dem herannahenden Tod. Barnes’ Blick ist dabei unsentimental, aber auch weit davon entfernt, sein Thema zu verharmlosen. Er zeigt im Prinzip nichts weiter, als dass das Leben weitergeht, bis es zu Ende ist – eine Tatsache, die wir bei aller Offensichtlichkeit durch Verdrängung der Gedanken an das Alter wie auch der Alten selbst gerne vergessen.

Die elf Geschichten sind von einer inhaltlichen und stilistischen Breite, die in der Tat einiges an schriftstellerischer Reife voraussetzt, zumal, wenn man sie so souverän handhabt, wie Barnes das tut. So schreibt er eine lakonische Erzählung über die verpasste Liebe eines Holzhändlers im Skandinavien des vorvergangenen Jahrhunderts, um gleich darauf zur Wiedergabe eines oberflächlich netten Kaffeekränzchens zweier alter Damen zu wechseln. Es gibt einen Miniaturbriefroman mit einer ganz wunderbar verschrobenen Protagonistin, eine „Kurze Geschichte des Haareschneidens“ und als Abschluss ein fragmentarisches, teilweise aphoristisch verkürztes Tagebuch des greisen Sibelius. In diesem wird der merkwürdige Titel der Sammlung erklärt und gezeigt, dass alles, die Literatur, die Musik und auch das Leben, letztendlich auf die Stille hinauswill. Dann ist Ruhe. SEBASTIAN DOMSCH

Julian Barnes: „Der Zitronentisch“. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. KiWi, Köln 2005, 255 S., 18,90 Euro