„Man muss lernen, mehr zu tolerieren“

Black Box Der niedersächsische Psychiatrieausschuss tritt für psychisch Kranke in Heimen und Kliniken ein. Bei Kontrollen stößt er auf Unterbesetzung und eine fatale Neigung zur geschlossenen Unterbringung

Norbert Mayer-Amberg

54, ist niedergelassener Psychiater in Hannover und Vorsitzender des Ausschusses für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung des Landes Niedersachsen. Dessen Besuchskommission überprüft regelmäßig Einrichtungen in Niedersachsen.

Interview Friederike Gräff

taz: Herr Mayer-Amberg, woran hapert es in den psychiatrischen Einrichtungen?

Norbert Mayer-Amberg: Die Kritik unserer Kommission bezieht sich oft auf die personelle Ausstattung oder bauliche Gegebenheiten, manchmal auch auf die Einhaltung rechtlicher Standards, wenn es um geschlossene Unterbringung geht oder die Anwendung von Zwangsmaßnahmen.

Warum herrscht in so vielen Einrichtungen Personalknappheit?

Zum einen geht es um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, die anspruchsvoll sind, für die sich Menschen finden müssen, die gut qualifiziert sind und persönlich stabil. Gleichwohl ist die Bezahlung in diesem Bereich nicht gerade großzügig. Wir betrachten mit Sorge, dass in den letzten Jahren die Ausbildungskapazitäten eher zusammengestrichen als ausgebaut worden sind. Das gilt für Pflegekräfte, Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte gleichermaßen.

Mit welchen Folgen?

In ländlichen Regionen und kleineren Städten ist es immer schwieriger geworden, ärztliche Stellen zu besetzen, was nicht nur für den psychiatrischen Bereich gilt. Wir werben ausgebildete Kollegen aus Ländern an, die über weit weniger finanzielle Ressourcen verfügen und einen größeren Mangel an Ärzten haben als wir, anstatt mehr in Ausbildungskapazitäten hierzulande zu stecken.

Sie besuchen mit Ihrer Kommission sehr unterschiedliche Bereiche. Welche sind als besonders prekär aufgefallen?

In Niedersachsen ist vor rund zehn Jahren ein Teil der psychiatrischen Landeskliniken privatisiert worden. Die Kliniken gingen an unterschiedliche Träger, teils an die Wohlfahrtspflege, teils an die Kreise, teils an private Konzerne. Da reicht die Bandbreite vom Großkonzern, der kaum zu greifen ist, bis zum Wohlfahrtsbetrieb, der nicht so genau weiß, wo er hinsteuert. Wir haben seit Jahren immer wieder Probleme mit einem Konzern, der mehrere Kliniken übernommen hat und die Politik verfolgt, seine Pflegekräfte outzusourcen.

Was bedeutet das für die Arbeit vor Ort?

In dem Moment, in dem die alten Tarifverträge der Mitarbeiter ausliefen, wurden die Leute weitergegeben an eine Gesellschaft, die zwar dem Konzern gehört, aber einen anderen Tarifvertrag anbietet. Das bedeutet 25, 30 Prozent weniger Gehalt für die gleiche Arbeit.

Das können sich die Arbeitgeber trotz des Personalmangels erlauben?

Leider ist das so. So etwas macht sich natürlich bei der Qualität der Arbeit bemerkbar, führt zu einem Mangel an therapeutischen Angeboten und zu Beschwerden von Patienten. Da aber viele dieser Kliniken so positioniert sind, dass den Menschen, die in deren Umgebung leben, keine anderen Möglichkeiten bleiben, stehen sie nicht im Wettbewerb.

Das heißt, die Patienten haben keine Wahl?

Die haben sie nur sehr begrenzt. Sie haben eine Wahl, wenn es ihnen nicht zu schlecht geht und sie Wartezeiten in Kauf nehmen können für Kliniken, die weiter weg sind. Wenn sie aber in einer akuten Krise sind, sind sie auf die Klinik vor Ort angewiesen.

Funktionieren die Kontrollmechanismen, etwa durch die Heimaufsicht?

Die Heimaufsicht kann Standards in Heimen überprüfen, aber die Möglichkeiten, diese Standards zu unterlaufen, gibt es trotzdem. Im Heimbereich ist es zudem so, dass die Möglichkeit, ein Heim zu eröffnen, praktisch jedem offen steht, da herrscht Wildwuchs. Ein Phänomen in Niedersachsen ist, dass wir Heimbetreiber im ländlichen Raum haben, die ihre Klientel aus anderen Bundesländern regelrecht rekrutieren.

Warum ist das problematisch?

Es ist kontraproduktiv, weil diese Heime dafür sorgen sollen, dass die Menschen nach dem Aufenthalt vor Ort wieder in die Gesellschaft integriert werden. Aber wie soll ich jemanden reintegrieren, der 50 Jahre in Berlin gelebt hat und nun auf dem Lande in Niedersachsen weder soziale Bezüge noch familiäre Kontakte hat?

Führt der Ausbau der Heime nicht auch zu einer positiven Konkurrenz?

Er bringt einerseits eine positive Konkurrenz, die dazu führt, dass die schlechtesten Betriebe verschwinden. Andererseits sprechen wir hier über Menschen, die nicht unbedingt aus freien Stücken dazu in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Sie schauen sich nicht fünf Einrichtungen an und entscheiden dann, wo sie sich am wohlsten fühlen.

Ist die Psychiatrie noch immer eine Black Box, an der die Öffentlichkeit wenig Interesse hat?

Es hat sich zwar etwas getan, aber die Psychiatrie ist nach wie vor ein Randbereich, über den man nicht gerne redet und über den es viele Vorurteile gibt, selbst bei Leuten, die beruflich damit zu tun haben. Und derzeit, wo es sehr viel um Flüchtlinge in Deutschland geht, fürchten wir, dass unsere Klientel zu denen gehören, die unter dem Thema am meisten leiden, weil sie im direkten Verdrängungswettbewerb um Arbeit und Wohnungen stehen. Ich habe im Moment Menschen hier in meiner Praxis vor mir sitzen, die sagen: „Tja, die Behörden können mir jetzt erst mal keine Wohnung geben, ich bleibe in meiner Einrichtung sitzen.“ Es ist leider immer so, dass die Schwächsten einer ­Gesellschaft dem härtesten Konkurrenzdruck ausgesetzt sind.

In gewisser Weise machen Sie eine ähnliche Erfahrung mit dem Jahresbericht Ihrer ­Kommission, der immer noch nicht im Sozialausschuss beraten wurde. Was sind Ihre Erwartungen an die Politik?

Dass der Sozialausschuss noch nicht zu unserem Bericht gekommen ist, ist ihm angesichts der Flüchtlingsthematik kaum vorzuwerfen. Aber zu unseren Erwartungen: Wir hätten gern mehr Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Hand im Heimbereich. Wir benötigen auch dort eine Art Bedarfsplanung, um Wildwuchs,beziehungsweise die Konzentration in bestimmten Bereichen eingrenzen zu können. Auch benötigen wir die Möglichkeit, die Herkunft der Bewohner zu erfassen. Vor allem sehen wir den Ausbau der geschlossenen Unterbringung in Heimen sehr kritisch.

Wie kann man da gegensteuern?

Die geschlossene Unterbringung müsste grundsätzlich wieder mehr hinterfragt werden. Das gilt für die Ärzte, Therapeuten, Betreuer und zuständigen Richter. Es ist aber auch ein gesellschaftliches Phänomen: Es geht um die Frage, was wir bereit sind, zuzulassen, ob etwa jemand das Recht hat, sich zugrunde zu trinken. Es geht auch um Kreativität bei Alternativkonzepten. Ich selbst ­betreue zum Beispiel eine psychiatrische Einrichtung, wo sicher sehr viele schwierige Menschen sind, die anderswo geschlossen untergebracht würden.

Geht es dann um zusätzliche Mittel?

Nicht unbedingt. Die geschlossene Unterbringung ist teurer, man braucht dort mehr Personal. Bei den Alternativen braucht man eher anderes Personal mit einem bestimmten Selbstverständnis. Man muss lernen, mehr zu tolerieren, zu akzeptieren.

Der allgemeine Trend geht eher nicht dahin.

Da unterscheiden wir uns leider von anderen europäischen Ländern, die die geschlossenen Abteilungen eher abbauen, während wir ausbauen. Das ist eine mehr als problematische Entwicklung. Wir bringen die Leute nicht einmal aus ordnungspolitischen Gründen dorthin, manchmal steckt eher der Wunsch dahinter, Menschen umfassend zu versorgen oder vor sich selbst zu schützen.

Da sich die rechtlichen Grundlagen nicht geändert haben – ist es die Haltung der Betreuer, Richter und Ärzte?

Es hat sicher mit dem Thema ­Aggressivität und Gewalt zu tun. Es ist aus den Köpfen der Leute nicht herauszukriegen, dass der psychisch Kranke ein eher gefährlicher Mensch ist, obwohl alle Statistiken dagegen sprechen. Aber die Angst, die ein Gutachter heute hat, dass ein Begutachteter wieder straffällig wird oder sich etwas antut, führt sicher eher zu der Empfehlung: Verwahren.