Ein Fisch steht bei Festival-Kurator Ciprian Marinescu auf dem Fernseher. Ein christliches Widerstandssymbol? Nein, einfach „Kitsch“, sagt er Foto: Christine Cizmas

Die Freiheitsflagge als Putzlappen

Bühne Temeswar im äußersten Westen Rumäniens war nicht bloß Studienstadt von Herta Müller, sondern birgt eine vielsprachige Theatertradition. Zeit für ein neues Festival

von Astrid Kaminski

Das ist ja mal ein Outing: „So einen Fisch habe ich auch überm Fernseher“, sagt Ciprian Marinescu. So, das heißt, so wie im „Museum des kommunistischen Konsumenten“ im west­rumänischen Temeswar oder in der Rückschau-Performance „All that mattered“ von Mădălina Dan und Sergiu Matis. Der Fisch auf dem Fernseher ist aus Glas, mit bunten Inlays. Ein christliches Widerstandssymbol aus Diktaturzeiten? „Ach was“, winkt ein Befragter ab, „Kitsch.“ Ciprian Marinescu (schwarze Kluft im Revolutionsstil, krasser Kaiser-Joseph-Bart, schwarz lackierte Fingernägel, Undercut, sanfte Augen) gehört nicht zu den Menschen, denen man einen Haushalt mit solchen Deko-Objekten zugetraut hätte. In Berlin kümmert er sich um das Education-Programm des Theaters Hebbel am Ufer (HAU); in Temeswar hat er studiert und ein Theatermagazin herausgegeben, nun will er dort die Performance-Szene ankurbeln und kuratiert das erste Festival performativer Künste.

Die 300.000-Einwohner-­Stadt mausert sich gerade, für ihre Bewerbung als europäische Kulturhauptstadt 2021. Sämtliche Innenstadtstraßen sind under construction. Temeswar hat eindeutig Potenzial: eine beeindruckende Geschichte, die Nobelpreisträgerin Herta Müller unter ihren Exstudierenden, beneidenswerte Parks und Cafés, großartige historische Gebäude – wenn auch im weniger großartigen Zustand, was nicht zuletzt an ihrem Status als Investitionsobjekte liegt. Gewohnt wird eher in der Platte.

Bukarest-Berlin-Connection

Für die erste Festivalausgabe hat Ciprian Marinescu sich vorgenommen, Fragen zu stellen an Temeswar – die historische Vielvölkerstadt der k. u. k. Zeit, die Stadt der rumänischen Revolution, die heutige Stadt an der EU-Grenze zu Serbien. Das letzte Bedeutende, was von Serbien in Richtung Osten kam, waren, so sieht es Marinescu, „die Lichter der Gefechte“. Das soll sich ändern. Zur Eröffnung werden vor allem die Verbindungen zu den Performance-Metropolen Bukarest und, mehr noch, Berlin klar.

Zunächst sind da, ein Relikt aus Temeswars Zeit als Vielvölkerstadt, die drei öffentlichen Theater: das rumänische, das ungarische, das deutsche. Bis vor dem Zweiten Weltkrieg bestand die größte Bevölkerungsgruppe aus Deutschstämmigen. Das ist heute anders. Die erste große demografische Veränderung war Folge des Zweiten Weltkriegs, die zweite Folge der Revolution.

„1991 gab es in Rumänien noch über 100.000 Deutschstämmige, 2001 waren es noch 37.000, heute leben in Temeswar etwa 4.000“, überschlägt Lucian Vărșăndan, der Leiter des deutschen Theaters, der, wie auch seine KollegInnen des rumänischen und ungarischen Theaters, mit dem Performance-Festival zusammenarbeitet. Vărșăndan hat sein Deutsch in der Schule gelernt. Er spricht es mit einer Liebe zur Präzision – als würde er die Wörter malen. Schon zu Studienzeiten besuchte er das Theater. Als einer von weniger als 10 Besuchern. Als er dann als Dramaturg einstieg, war es, „als spielten wir für die letzten, wie die Band auf der ‚Titanic‘ “. Heute hat das Theater eine Auslastung von 80 Prozent. Und dabei muss Vărșăndan einen ziemlichen Spagat hinbekommen: Das deutschstämmige Publikum mag konventionelle Inszenierungen, das wachsende Deutsch-als-Fremdsprache-Publikum hat einen progressiveren Geschmack, das rein rumänischsprachige, dessen Anteil inzwischen bei über 30 Prozent liegt, braucht eine Simultanübersetzung – die sei übrigens eine Erfindung von Ceaușescus Zensurbehörde.

Schräges Verkuppeln

Die Lust am Experiment ist Vărșăndan anzumerken, aber sie überrascht im Ambiente ­seines mit Urkündchen und venezianischer Maske geschmückten Büros. Seine „schrägste Ver­kupp­lungsaktion“: eine Tanz­theater-Koproduktion mit dem Nationalen Tanzzentrum in Bukarest. Die Wahl für den Regisseur fiel auf den Festivalgast Sergiu Matis, der am Berliner Hochschulübergreifenden Zen­trum Tanz (HZT) studiert und bei Sasha Waltz getanzt hat – und jetzt seiner Hassliebe zum Ballett in ersten eigenen Stücken nachgeht. Für das Festival steckt er in Leggings mit Schwanenprint und arbeitet sich an Marius Pepitas „Dornröschen“ ab – sowie an seinem Ballettlehrer, für den er nach Seife statt nach Deo duften musste. „Erinnerung ist Identität“, heißt es bei Julian Barnes einmal, und das gilt bei Matis auch in Bezug auf sein Körpergedächtnis. Wenn Tschaikowskis Musik erklingt, dann ist das für ihn ein Akt aktiven Widerstands, sich nicht in die dazugehörigen Ballettfiguren zu biegen, sich nicht der Kontrolle des Tanzes sowie automatisierten Technik und Choreografien zu fügen.

„Als ich nach dem Studium eine Zeit lang im deutschen Kulturzentrum in Temeswar arbeitete und mich die damalige Leiterin fragte, was in der Stadt noch fehle, da sagte ich: Zeitgenössischer Tanz“, erinnert sich Mona Isabella Petzek, die jetzige Interimsleiterin des Zentrums. Ihre Vorgängerin hatte das Festival initiiert, aber gab nach zweieinhalb Jahren Rangeleien mit dem Vorstand auf. Kulturpolitik kann an den Kräften zehren.

Ob das Kämpfen zu Revolutionszeiten wohl einfach war? In Temeswar soll praktisch die ganze Stadt auf der Straße gewesen sein. Hier hatte 1989 die Revolution gegen Ceaușescu begonnen, hier wurde auf dem Balkon der Staatsoper die rumänische Flagge gehisst. Die Fahne mit dem kreisrunden Loch in der Mitte wurde zur Freiheitsflagge. Und auch zum Emblem der Soloperformances der hauptsächlich in Berlin arbeitenden Mădălina Dan. In „Sâmbăta“ (Samstag) – eher Happening als Performance – benutzt sie die Freiheitsflagge als Putzlappen. Um Emotionen bei nationalen Symbolen geht es.

Der Gatte der Interimsleiterin ist Professor der Temeswarer Universität. Er habe die Performance „unzusammenhängend“ gefunden, gesteht er. Verpasst hat er allerdings die Anekdote zu Clinton, der die Freiheitsfahne beim Staatsbesuch 1997 für einen Poncho hielt. Aber wahrscheinlich kannte der Professor die Episode ohnehin schon. Irgendwann kommen wir im Gespräch auf Gehälter. 400 Euro für Professoren. Lehrer bekommen 200. Mircea Cărtărescus Revolutionsroman „Die Flügel“ kostet im Buchladen fast 40 Euros, 167 Lei. Wer leben will, arbeitet sich kaputt.

Fauxpas: Bill Clinton hielt die Freiheits-fahne beim Staats­besuch 1997 für einen Poncho

Kreativ ohne Staatsknete

„Am Anfang konnten wir uns nicht einmal Zigaretten oder eine Cola leisten“, sagen Ovidiu Mihaita und Christine Cizmas vom Teatru Aualeu (tolle Website: www.aualeu.ro), in dessen Keller auch das „Museum of the Communist Consumer“ untergebracht ist. Trotzdem haben die Theatermenschen sich dafür entschieden, ihre Kunst durch eine Bar zu finanzieren und nicht durch Subventionen: „Staatsgeld kann keine Bedingung für Kreativität sein“, sagen sie unter dem üppigen blauen Trauben ihrer Pergola. Den Raum für den Festivalbeitrag „You might as well have sung the Swedish national anthem“ des Bukarester Künstlers Farid Fairuzb haben sie kostenfrei zur Verfügung gestellt. Für dieses 1:1-„Schocktherapie“-Format nur für Männer.

Das Bewusstsein dafür, wo Förderpolitik die Freiheit der Kunst eher einschränkt als erweitert, ist unter Temeswarer KünstlerInnen ausgeprägt; deshalb sind sie umso kompromissloser. So hat beispielsweise die feministische Gruppe H.ARTA die Teilnahme am Perfor­mance-Festival ganz abgelehnt. Grund ist ausgerechnet die Bewerbung Temeswars um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2021. Während das Festival sich seine Position in der Planung sichern will, kritisiert H.ARTA, dass die Kulturgelder der Stadt fortan an das 2021-Konzept gebunden würden und nicht mehr dem freien Wettbewerb zur Verfügung stünden.

Auch zur multikulturellen Imagepflege der Stadt hat die Gruppe einen Kommentar: „Auf das ‚deutsche’ Erbe ist man stolz. Das ungarische ist noch okay. Spätestens bei den Roma hört Multikulti auf.“ Im Prinzip stehen sich H.ARTA und der Kurator Ciprian Marinescu gar nicht mal so fern. Darum hätte er sie gern dabeigehabt.

Andererseits ist es auch gut, dass sich Marinescu für das erste Festival keine alles umfassende politische Problem­analyse vorgenommen hat. Das P von Performance verleitet ja allzu oft dazu. Aber es kam ihm, ohne didaktisch zu sein, auch auf vermittelnde Positionen an wie „Collective Jumps“ der Berliner Tänzerchoreografin Isabelle Schad. Sie lotet die Möglichkeiten des zeitgenössischen Tanzes zwischen Utopie und Dystopie aus: Ein ornamentaler Kollektivkörper manövriert durch fantasievolle Metamorphosen. Das System gibt den Takt vor, der Einzelne den Puls. Die vor Ort gecasteten TänzerInnen sind keine Profis, das ist klar. Aber sie gehen ganz in der Choreografie auf. Freiheit kann auch die Freiheit des Fisches sein, nicht durchs Netz zu schlupfen.