Der Stachel des Misstrauens sitzt tief

Vor einem Jahr wurde der niederländische islamkritische Filmemacher Theo van Gogh ermordet. Das Land hat sich von dem Schock noch nicht erholt. Im Gegenteil: Die Polarisierung zwischen den Kulturen nimmt weiter zu. Die Politik reagiert mit Härte

AUS AMSTERDAMCLARA ROSENBACH

In der Amsterdamer Linaeusstraße erinnert nichts an das, was vor genau einem Jahr die Niederlande in einen Schockzustand versetzt hat: Einige Jugendliche warten auf die Straßenbahn, Fahrradfahrer drängen sich an der roten Ampel. Eine Bäckerei verkauft Brotjes und Döner. Genau hier, auf dem Gehweg vor einem indischen Restaurant, starb vor einem Jahr Theo van Gogh einen grausamen Tod. Der islamkritische Filmemacher war mit dem Fahrrad auf dem Weg in die Amsterdamer Innenstadt gewesen, als er von einem jungen Mann angefallen und vom Fahrrad gerissen wurde. Mohammed B., ein Niederländer marokkanischer Herkunft, stach mehrfach auf sein Opfer ein, bevor er ihm mit einem riesigen Schlachtmesser die Kehle durchtrennte.

Mohammed B. wurde von einem Amsterdamer Gericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Aber die Wunden, die der grausame Tod van Goghs in der niederländischen Gesellschaft aufgerissen hat, sind noch lange nicht geheilt. Nach dem Mord brannten in den Niederlanden zahlreiche Islamschulen und Kirchen. Das als so tolerant bekannte Land drohte in Anarchie zu versinken. Mit van Gogh war ein Symbol für Meinungsfreiheit gestorben, und die ist den Niederländern heilig. Sein Film „Submission“ hatte für Proteste in der muslimischen Gemeinschaft gesorgt. Van Gogh ließ darin Koranverse auf einen nackten Frauenkörper schreiben, um den Umgang mit Frauen im Islam zu kritisieren.

„Die Menschen hier sind es gewohnt, dass sie sagen dürfen, was sie wollen. Den Islam halten sie jetzt für gefährlich und unberechenbar“, sagt ein Ägypter. Rechtspopulistische Parteien wie von Geert Wilders bekommen immer mehr Zulauf. Am Montag gründete der Kriminalreporter Peter de Vries eine Partei, die den Bürgern vor allem mehr Sicherheit verspricht.

„Die Polarisierung hat zugenommen“, meint auch der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen. Die Niederländer begegneten ihren muslimischen Nachbarn mit mehr Misstrauen als vor dem 2. November 2004.

Dieses Misstrauen ist auch in der Politik der konservativ-liberalen Regierung von Jan Peter Balkenende spürbar. Integrationsministerin Rita Verdonk hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die die Einwanderung in die Niederlande erschweren sollen. So müssen Einwanderer künftig einen Sprachtest ablegen, bevor sie ihr Heimatland Richtung Niederlande verlassen dürfen.

Auch die Asylpolitik wurde verschärft. Als in der vergangenen Woche bei einem Brand im Abschiebeknast von Schiphol elf Asylbewerber umkamen, äußerten zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ihre Bedenken über die neue niederländische Härte. „Es ist nahezu unmöglich, in den Niederlanden Asyl zu bekommen“, sagte eine Sprecherin von Human Rights Watch. Und die Marokkaner und Türken, die bereits in Holland zu Hause sind, erheben ebenfalls ihre Stimme. Kürzlich demonstrierten über 5.000 Menschen in Amsterdam gegen die Politik der Regierung.

Die Stadtverwaltung in van Goghs Heimatstadt bemüht sich unterdessen um Schadensbegrenzung. Plakate in den Straßen erinnern an Toleranz und gegenseitigen Respekt. Die Initiative „Wir Amsterdamer“ soll für ein harmonisches Zusammenleben der Kulturen sorgen. Das US-Magazin Time hat dem OB für seine Bemühungen den Titel „Held Europas“ verliehen. Heute finden mehrere Veranstaltungen zum Gedenken an van Gogh statt. Im Oosterpark, der an die Linnaeusstraße grenzt, soll demnächst ein Kaktus an den unbequemen Denker erinnern.

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