Ein Einheitsgespräch, mit Blick auf den Brückenschlag zwischen Ost und West: Marianne Streisand, Stephan Pramme, André Giogoli und Ebru Taşdemir (von links) nahe der Oberbaumbrücke

„Bald ist Berlin rundgelutscht“

Einheit Neugier auf die andere Hälfte der Stadt, Euphorie, Ängste und Verunsicherung, Brüche im Lebenslauf: Wir wollten wissen, wie wichtig der Osten, der Westen und die Grenzen für BerlinerInnen heute noch sind

Interview Claudius Prößer
und Uta Schleiermacher
Fotos David Oliveira

Treffpunkt Oberbaumbrücke, ein Café auf der Kreuzberger Seite. Die Septembersonne lässt Stadt und Fluss leuchten und scheint irgendwo zwischen „Mercedes-Benz-Arena“ und dem neuen Wohntower am Spree-Ufer auch auf den Mauerrest der East-Side-Gallery. Wir haben vier BerlinerInnen eingeladen – zwei aus dem Osten der Stadt, zwei aus dem Westen –, um mit ihnen über die Mauerreste im Kopf zu sprechen, persönliche Bilanz zu ziehen nach 25 Jahren Einheit: Sind wir jetzt wirklich alle ein Volk? Ist zusammengewachsen, was gar nicht zusammengehört? Oder verlaufen die Trennlinien längst woanders?

Nach dem Fotoshooting ist sich die Runde schon gar nicht mehr so fremd und einigt sich umgehend aufs „du“. Da kann ausgerechnet die taz nicht außen vor bleiben.

taz: Marianne, Ebru, Stephan, André, die Kategorie Ossi/Wessi ist nicht so leicht totzukriegen. Was denkt ihr, wenn ihr diese Begriffe hört?

André Giogoli: Für mich spielt das gar keine Rolle mehr: Ich habe mit vielen jungen Leuten zu tun, und man merkt nicht, ob jemand, der bei uns auf die Schule kommt, in Halle geboren ist oder in Freiburg oder eben im Osten von Berlin.

Marianne Streisand: Für mich ist das schon eine Kategorie. Bei den Studenten geht es mir genauso, da merkt man das überhaupt nicht mehr. Aber wenn ich an meiner Hochschule im Emsland in der ersten Stunde sage: „Ich bin Ossi, damit das mal klar ist“, dann ist das für die schon sehr erstaunlich.

Ebru Taşdemir: Ich würde mich nicht als Wessi bezeichnen. Ich finde den Begriff auch ganz schrecklich, Ossi hat für mich einen angenehmeren Klang. Am Anfang wurden die Ossis von den Türkeistämmigen auch gar nicht so sehr als Deutsche gesehen, sondern eher so: „Auch’ne Minderheit.“ Deshalb schlägt mein Herz immer ein bisschen mehr für sie. Als ich euch beide eben gehört habe, dachte ich übrigens gleich wieder: Nur die Ossis trauen sich in Berlin noch so herzhaft zu berlinern. Ich liebe das auch, aber in Westberlin war es immer ein bisschen verpönt. Einer Freundin von mir hat der Lehrer in der Grundschule gesagt: Du bekommst nur eine Gymnasialempfehlung, wenn du zu berlinern aufhörst, liebe Yonca. Das war schon heftig für so eine kleine türkische Göre.

Stephan Pramme: Ich persönlich würde mit „Ossi“ eher die Leute außerhalb Berlins bezeichnen, aus Sachsen oder aus Meck-Pomm. Ich selber würde nicht sagen, dass ich Ossi bin. Ich bin Ostberliner. Das geht auch mit einer bestimmten Mentalität einher.

Streisand: Ick bin Ossi. (Lachen) Ich will das gar nicht so wegschieben.

Pramme: Ich schiebe ja nicht meine ostdeutsche Identität weg, ich sage bloß, ich bin eher ostberlinisch geprägt als ostdeutsch. Gerade in diesen Tagen unterscheidet uns doch eine gewisse Weltoffenheit von den Dresdnern oder Leipzigern.

Streisand: Die Leipziger und Dresdner, die ich kenne, sind alle ziemlich weltoffen. Aber ich glaube, in Berlin war es immer leichter, Berührungspunkte nach außen zu haben. In meinem Institut gab es zum Beispiel ganz viele Kontakte zu Unis im Westen. Insofern war die Situation vielleicht ein bisschen anders als in Dresden. Und natürlich haben wir alle Westfernsehen geschaut. Während der Tagesschau rief man niemanden an!

Am Samstag ist ein 3. Oktober und damit der Tag der Deutschen Einheit. Im Einigungsvertrag 1990 wurde dieser Tag zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt. Als deutscher Nationalfeiertag soll er an die deutsche Wiedervereinigung erinnern, die „mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990“ vollendet wurde.

Das offizielle Einheitsfest zum 25-Jährigen findet in Frankfurt am Main unter dem Motto „Grenzen überwinden“ statt. Festausrichter ist stets jenes Bundesland, das gerade den Vorsitz im Bundesrat innehat.

Gefeiert wird aber auch in Berlin, mit einem privat veranstalteten Fest am Brandenburger Tor. Los geht es am Freitag um 11 Uhr mit einem Unterhaltungsprogramm für alle Altersgruppen. Am Samstag stehen dann unter anderem Lena Meyer-Landrut und Revolverheld auf der Konzertbühne. Am Sonntag widmet man sich bei dem Einheitsfest ganz dem deutschen Schlager.

Die Wiedervereinigung ist auch thematischer Schwerpunkt beim Museumsfest am Samstag und Sonntag im Deutschen Historischen Museum, unter anderem mit einem Filmprogramm im Zeughauskino. Eintritt frei. Und etwas intimer kann man sich den Tag der Deutschen Einheit am Samstag mit einer Lesung im Zimmer 16, Florastraße 16 in Pankow, machen. Dort wird um 20 Uhr das von Falko Hennig und Alessandra Schio herausgegebene Buch „Welche Mauer eigentlich?“ vorgestellt, mit Texten zur Wendezeit. Erinnert daran haben sich unter anderem Uli Hannemann, Thomas Brussig und Kirsten Fuchs.

Mit welchen Gefühlen habt ihr damals die Wendezeit erlebt? War das eher Euphorie oder Verunsicherung?

Taşdemir: Ich war damals 15, 16 Jahre alt. Als die Mauer fiel, haben sich meine Eltern total gefreut, alle unsere Bekannten und Verwandten fanden das sehr rührend. Als mein Vater noch Junggeselle war, fuhr er ganz oft nach Ostberlin rüber und hatte Freundinnen dort. Aber als dann die Einheit kam, habe ich von den ersten schon gehört: „Ach du Scheiße, ab jetzt geht’s hier rund, wenn die Deutschen vereinigt sind, sind wir außen vor.“ Das ist das Gefühl, wenn ich an die Einheit denke. Da fing eine Art von Ausgrenzung an, die ich vorher nicht so erfahren hatte. Meine Eltern hatten deutsche Freunde, die deutschen Nachbarn kamen auf einen Kaffee vorbei, nebenan wohnte Ditmar Staffelt von der SPD, das war alles ganz selbstverständlich. Und wenn dann doch mal irgendeiner blöd kam, hat man sich halt gedacht: Egal, ein Nazi, der nächste ist toll.

Streisand: Ich habe beim Mauerfall mit Kollegen an der Humboldt-Uni zusammengesessen, wir haben damals versucht, eine Verfassung für unser Institut auszuarbeiten, mit Drittelparität, furchtbar (lacht). Und in dem Moment haben wir echt gesagt: „Morgen gehen wir rüber, aber jetzt machen wir das erst mal zu Ende.“ Klingt bekloppt, war aber so. Zur Einheit dann, zum 3. Oktober 1990, sind wir in die Pilze gegangen. Das ging uns nichts mehr an, da war die Sache ohne uns gelaufen.

Pramme: Diese Geschichten kenne ich nur aus Erzählungen, aber dahinter verbirgt sich ja die Vorstellung einiger Ostdeutscher, doch noch etwas aus der DDR zu machen.

Giogoli: Dass diese Chance nicht genutzt wurde, ist auch etwas, das hängen bleibt. Vor der Wende gab es ja auch im Westen gewisse gesellschaftliche Utopien, und dass ihr euch dann so reibungslos habt einkassieren lassen, jetzt mal ganz böse gesagt, das war schon überraschend.

Streisand (lacht)

Giogoli: Was du, Ebru, eben gesagt hast, gilt übrigens auch für eine andere, nichtmigrantische Westberliner Schicht. Wir hatten auch anfangs dieses Gefühl: Klasse, die Grenze ist weg! Für mich war das auch persönlich toll, weil meine Frau viel Verwandtschaft in Ostberlin hatte. Aber dann wurden für uns als Studenten die Wohnungen teurer, der Andrang auf die Kitas nahm zu, es stellte sich eine gewisse Ernüchterung ein.

Wart ihr neugierig auf die andere Hälfte der Stadt?

Giogoli: Westberlin hat sich ja immer groß gefühlt, war aber klein. Verglichen mit Paris oder London war es eben nur eine Provinzstadt. Und dann gehst du das erste Mal bewusst unter den Linden entlang und denkst: Ja, jetzt wird das was, jetzt ist Berlin ganz geworden. Das war so ein Aufbruchsgefühl, ohne es groß zu hinterfragen.

Streisand: Ich konnte mich noch an das frühere Westberlin erinnern, weil meine Großeltern dort wohnten. 1990 hatte ich das Glück, schon ein paar Monate vorher im Westen sein zu dürfen. Nach einer Dienstreise in die Schweiz bin ich heimlich in Westberlin ausgestiegen. Da kam ich aus einem so sauberen Land zurück und war richtig froh zu sehen, wie dreckig Westberlin war! Es war auch bunter, natürlich, es gab mehr Migranten und Ethnien, das fand ich toll. Aber erst mal war es eben auch Berlin.

Pramme: Meine Mutter hat kurz nach dem Mauerfall entschieden, dass ich im Wedding Abitur machen sollte. Daher hatte ich fünf Jahre lang intensiven Kontakt mit Westberlin, aber mein soziales Leben fand nach wie vor im Osten statt. Nach der Einheit wurde das auch eher wieder stärker. In Westberlin hat sich ja kaum etwas verändert, die Leute konnten in ihrem gewohnten Trott weitermachen, auch die in meinem Alter. Aber was sich Anfang, Mitte der neunziger Jahre in Ostberlin abgespielt hat, das war spannend, dieser Aufbruch, dieses Chaos! Und ich habe im Epizentrum gelebt, am Kollwitzplatz, da gab es gar keinen Grund, anderswo hinzuziehen. Das hat mir eine Menge Selbstbewusstsein gegeben, nachdem ich als Ostler in der Schule ziemlich unsicher gewesen war. Plötzlich schielt die ganze Welt genau auf den Ort, an dem ich groß geworden bin, plötzlich will da jeder hin.Zu sehen, dass da die Clubs sind und dass da die Nazis auf die Fresse bekommen, das hat mich sehr stolz und selbstbewusst gemacht.

Hast du die Wende als Bruch in deiner Biografie erlebt?

Pramme: Ja, als krassen Bruch, aber ich persönlich bin dafür dankbar. Erstens kam er für mich als 13-Jährigen genau zur richtigen Zeit, andererseits habe ich noch die Kindheit im Osten verbracht. Und dazu habe ich noch eine emotionale Beziehung. Auch wenn es mittlerweile nur noch ein museales Stück Biografie ist. Wenn ich noch eine Verbindung zu meiner Kindheit haben möchte, muss ich in alte Kinderbücher oder Geschichtsbücher gucken oder eben ins Museum gehen. Die einzige Chance, diese frühere Lebenswirklichkeit noch richtig zu greifen, ist in Gesprächen mit Menschen, die dasselbe erlebt haben. Manchmal beneide ich Leute aus Westdeutschland oder Westberlin – die haben immer noch den Zugriff auf Orte, auf Stimmungen, auf Gerüche.

Giogoli: Aber den alten Braunkohlegeruch im Winter haben wir auch nicht mehr, der früher von Osten durch den Wedding waberte.

Taşdemir: Ich habe als Kind ganz oft auf der Aussichtsplattform am Brandenburger Tor gestanden und rübergeguckt. Und jedes Mal habe ich mich gefragt: Wie sieht diese Quadriga-Frau von vorne aus? Ich wollte nicht immer die Ärsche von den Pferden, sondern auch mal die Köpfe sehen. Und am 10. November 89 bin ich aus Marienfelde zum Brandenburger Tor getrampt, es fuhr ja kein Bus wie sonst, und habe mir endlich das Gesicht von dieser Frau angeschaut. Danach bin ich eigentlich ziemlich oft rübergefahren. Es war ein ganz spezielles Gefühl, Ostberlin zu entdecken, mein Vater hatte immer davon erzählt, aber mehr in romantischen Zusammenhängen. (Lachen)

Streisand: Jeder weiß ja, wie schwer es ist, 40 zu werden. Das ist der härteste Geburtstag, glaube ich. Ich wurde in dieser Zeit 40 und es war verrückt: Ich hatte mir so ein bisschen was aufgebaut, ich habe zu Heiner Müller gearbeitet, wurde dazu auch öfters mal angefragt, all so was. Und von heute auf morgen galt das alles nichts mehr. Gehen Sie über null, ziehen Sie 100 Mark ein. Und ich dachte: Jetzt ist mein Leben eigentlich gelaufen. Ich fühlte mich plötzlich alt. Dabei war ich von heute aus gesehen noch unheimlich jung.

Taşdemir: Das Leben wurde ja für die Ostdeutschen entwertet. Es wurde plötzlich reduziert auf eine Banane und diese 100 Mark, das fand ich irgendwie unangenehm. Finde ich übrigens auch jetzt bei den Flüchtlingen. Dass da Leute stehen und den Menschen Bananen hinhalten, ist total nett gemeint, aber es wirkt auf mich unglaublich entwürdigend.

Streisand: Das ist ja nur die eine Seite. Das andere spielte sich auf beruflicher Ebene ab. Es gab alles doppelt, auch im Hochschulsektor gab es auf beiden Seiten ein Institut für Theaterwissenschaft. Bald war klar, es wird bestimmt nicht alles bleiben, wie es ist.

War das für euch mit Existenz­angst verbunden?

Schnell ging es bei Berlins Polizei: die wurde bereits vereinigt, noch bevor der Beitritt der DDR zur BRD feierlich am 2. auf den 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Auch im Hinblick auf die Einheitsfeier mit den Millionen Menschen, die man nur mit einem einheitlichen Polizeikommando zu sichern glaubte. Deswegen übernahm der damalige Westberliner Polizeipräsident Georg Schertz in Absprache mit den Alliierten schon am 1. Oktober 1990 gegen 13 Uhr als Polizeipräsident von ganz Berlin die Verantwortung.

Gar nicht sonderlich fast dagegen reagierte ein großer Food-Anbieter auf die Wende: 1993 eröffnete der erste Ostberliner McDonald’s in der Karl-Liebknecht-Straße – die ersten McDonald’s-Burger im Westteil servierte man 1983 am Hardenbergplatz.

Es dauerte, bis Berlin auch in Stromfragen als wiedervereinigt gelten durfte. Zu Zeiten der Teilung war Westberlin, abgekoppelt von Westdeutschland und der DDR, eine „Strominsel“.Der erste Schritt in Richtung elektrische Einigung bildete eine zwei Kilometer lange Notstromverbindung aus dem Berliner Osten. Ende 1998 war das geteilte Stromnetz zwischen Ost- und Westberlin wiedervereint.

Auf Bezirksebene kam es erst im Rahmen der Verwaltungsreform 2001 zu Ost-West-Annäherungen: mit dem neuen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und dem Bezirk Mitte, die Fusion von Mitte, Tiergarten und Wedding.

Das 1969 eingeführte ausschreitende Ost-Ampelmänchen wurde nach der Wiedervereinigung sukzessive durch seinen scheinbar vorbildhaft leuchtenderen Westkollegen ersetzt. Wogegen sich Protest regte in der Bevölkerung. Mit Erfolg. Seit Januar 2005 werden in Berlin auch in den Westbezirken Ost-Ampelmännchen an Lichtzeichenanlagen eingesetzt.

Streisand: Total! Wir wurden gezwungen, unsere unbefristeten Arbeitsverträge zu kündigen und befristete zu unterschreiben. Und zu der Angst, die Arbeit zu verlieren, kam die Angst, die Wohnung zu verlieren. Uns war auch gleich klar, diese riesige Wohnung in Prenzlauer Berg, die würden wir nicht behalten können.

Taşdemir: Wie riesig war die denn?

Streisand: Ach, darf man gar nicht erzählen. Gigantisch.

Pramme: Ich hatte auch 120 Quadratmeter am Kollwitzplatz.

Giogoli: Ich auch, in Neukölln. Die konnten wir auch nicht mehr lange halten.

Streisand: Dann sind wir ja alle Verlierer der Einheit. (Lachen)

Giogoli: Ich habe vor 89 immer gesagt, wir machen uns als Fotografen in Westberlin selbstständig und gehen dann wieder weg. Hamburg, Düsseldorf, London – auf jeden Fall raus. Aber plötzlich änderte sich die Situation für uns radikal, wir hatten wahnsinnige Locations zur Verfügung, wir hatten die Kontakte in den Osten. Also sind wir in Berlin geblieben, und alle kamen zu uns. Für meine persönliche Entwicklung war das auch super.

Wenn ihr euch das von heute aus anseht: Hat Berlin ab diesem Zeitpunkt eine gute Entwicklung genommen?

Streisand: Klares Jein.

Pramme: Berlin hat durch die Wiedervereinigung erst mal gewonnen. Da ist dieser Abenteuerspielplatz Ostberlin auf diesen bunten Haufen Westberlin getroffen, und zusammen ergab das eine wunderschöne Mischung, ein Biotop, das hoffentlich nicht trockengelegt wird.

Giogoli: Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Westberlin kam ja aus der Hausbesetzerbewegung heraus, alles, was mit Westdeutschland unzufrieden war, ging nach Westberlin. Da gab es ein großes Potenzial, eine Utopie, die sich dann irgendwann einfach aufgelöst hat. Eine Szene, die dann konservativ geworden ist und diese Freiräume nur noch verteidigt hat. Aber so läuft das halt weiter. Mein älterer Sohn hat dann Freiräume gehabt, die nicht mehr meine waren. Illegale Parties, Kleben, Sprühen und so.

Streisand: Das Problem der Vereinigung war der Beitritt. Das eine gilt und das andere nicht mehr. Ich hätte mir schon gewünscht, dass dieser Prozess anders verläuft, vor allem nicht so schnell. In den 90ern gab’s immer den Spruch: „Irgendwann treffen wir uns alle in Marzahn wieder.“

Weil ihr aus der Stadt verdrängt wurdet.

Streisand: Wie erwartet konnte ich die 120-qm-Wohnung bald nicht mehr bezahlen, und aus der nächsten in Pankow bin ich wegen Eigenbedarf rausgeklagt worden. Und so geht es ja weiter. Ich finde diesen Prozess der Entmischung schrecklich. Die Stadt wird dadurch so langweilig. Wenn in einem Bezirk nur noch dieselben Leute leben, die dasselbe wählen, das finde ich schade. In Pankow haben jetzt alle zwei Kinder mit Laufrad und Helm …

Taşdemir: (lacht) In Kreuzberg doch auch!

Ebru Taşdemir

1973 in Westberlin geboren, ist in Marienfelde direkt an der Mauer aufgewachsen. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter nach Berlin. Sie arbeitet als Autorin und Journalistin und lebt heute mit ihren zwei Kindern in Kreuzberg.

Pramme: Man kann schon ganz klar sagen, dass Berlin immer langweiliger wird, dass es immer mehr einbüßt von dem, was es mal ausgezeichnet hat. Gerade seit den Nullerjahren erlebe ich diese krasse Aufteilung der Stadt, diese Segregation von sozialen Schichten. Berlin wird kommerziell durchgeschüttelt und neu geordnet. Ich habe Angst, dass ich irgendwann nicht mehr Teil dieser Stadt sein kann, weil eben jetzt andere die Fäden in der Hand halten und darüber entscheiden, wo ich wohnen darf und wo nicht.

Giogoli: Das ist ja nicht nur ein Ostberliner Problem. Mein älterer Sohn ist in Nordneukölln groß geworden und am Hermannplatz zur Schule gegangen. Er wohnt da jetzt auch wieder, aber er sagt, der Kiez, wo er zur Schule gegangen ist, ist das nicht mehr.

Pramme: Berlin wird dadurch ein bisschen gleicher. Irgendwann wird es eine genauso blankpolierte Stadt sein wie die restlichen in Deutschland.

Taşdemir: Und die Gruppen verschließen sich immer mehr. Die Leute können nur noch von ihren türkischen Taxifahrern oder Späti-Verkäufern erzählen. Aber dass sie mal sagen, mein Nachbar hat mir dies und das erzählt – das können die nicht mehr, weil es die nicht mehr gibt. Die Gruppen werden konservativer. Die Pankower und Kreuzberger Linken, das sind extrem konservative Leute, die ziehen sich einfach raus aus dem gesellschaftlichen Leben und das ärgert mich. Dabei haben wir doch genau die gleichen Bedürfnisse. Bezahlbaren Wohnraum, gute Bildung für die Kinder und ein angenehmes und bezahlbares kulturelles Leben.

Wie würdet ihr jemandem, der Berlin nicht kennt, eure Stadt erklären?

Pramme: Ich würde den meisten raten, schnell zu kommen, möglichst in den nächsten Jahren, um noch dieses …

Taşdemir: … Flair zu erleben?

Pramme: Machen wir uns doch nichts vor, diese Stadt wird in ein paar Jahren rundgelutscht sein. Da wird man sich keine Innenstadtwohnung mehr leisten können, vielleicht gibt’s irgendwann eine Sperrstunde.

Taşdemir: (lacht) Das ist der Tod!

Giogoli: Viele Leute, die diese Stadt in den Neunzigern und auch den Nullerjahren ausgemacht haben, sind ja nicht mehr da, die gehen dahin, wo es günstig ist. Viele Kunststudenten sind nach Leipzig gegangen und haben sich da ausgetobt.

Taşdemir: Zu einem, der Berlin nicht kennt, würde ich sagen: Lies dir erstmal Aras Ören durch, „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“, oder guck doch mal, was David Bowie in seiner Zeit hier gemacht hat. Und die Ärzte! Ich würde ihm auch sagen: Glaub nicht, dass die Türken alle so sind, wie sie jetzt an der Adalbertstraße rumhängen. Da gentrifizieren ja jetzt auch viele Türken kräftig mit. Ich würde sagen, entdecke die schönen Seiten von Berlin! Es gibt so unglaublich tolle Ecken. Ich habe jetzt Köpenick für mich erschlossen – dass ich das mal schön finde, hätte ich nie gedacht, aber mit zwei Kindern findet man ja so einiges schön, was man vor zwanzig Jahren spießig gefunden hätte.

Pramme: Klar würde ich nach wie vor in den höchsten Tönen von dieser Stadt sprechen.

Streisand: Würde ich auch. Was Besseres gibt’s nicht. Ich würde auch sagen, in Berlin kann man alles haben. So’ne verrückten Wünsche kann man gar nicht haben, dass man nicht noch drei findet, die dieselben haben. Das ist in anderen Städten wirklich anders. Glaubt mir, ich arbeite in einer westdeutschen Kleinstadt. (Lachen)

Marianne Streisand

geboren 1951, ist Urberlinerin aus dem Osten. Zur Wende hat sie in Prenzlauer Berg gelebt, seitdem in Pankow. Sie unterrichtet Theaterwissenschaft an der Hochschule Osnabrück und pendelt jede Woche in den Westen.

Pramme: Mir ist das letztens auch noch mal bewusst geworden. Da war ich auf der Oberbaumbrücke verabredet und hatte noch Zeit, es war so eine laue Augustnacht. Da hab ich einfach mal geistig einen Radius von zehn Kilometern um mich gezogen und versucht mir vorzustellen, was für unterschiedlichste Welten in diesem Radius platziert sind. Das finde ich in Berlin so abgefahren, das ich mir jede Woche eine andere Welt aussuchen könnte, in die ich eintauche. Das sollte auch so bleiben.

Wenn ihr hier so zusammensitzt, würdet ihr dann sagen: Ja, wir haben die Einheit?

Taşdemir: Also ich nehme aus diesem Gespräch mit, dass wir alle die gleichen Sorgen und Befürchtungen haben.

Pramme: Als Berliner, na klar. Das eint uns ja.

Giogoli: Es eint uns ja nicht wirklich …Na ja, ein bisschen.

Taşdemir: Aber warum wurschtelt dann jeder so vor sich hin? Mich wundert, dass wir alle so entpolitisiert sind.

Giogoli: Ich glaube das ja nicht so ganz. Zumindest von mir kann ich sagen, dass ich mich für das, was passiert, durchaus interessiere. Ich engagiere mich bloß nicht mehr so wie früher.

Pramme: Außer vielleicht auf dem Stimmzettel.

Taşdemir: Stimmt. Natürlich, jetzt gibt es viele Flüchtlingsinitiativen, aber wir müssen auch gucken, wie es weitergeht. Irgendwann sind die Flüchtlinge unsere Nachbarn und auch von hohen Mieten betroffen.

Streisand: Das hängt aber auch vom Politikverständnis ab. Wenn du zur Anti-TTIP-Demonstration gehst, ist das ja auch politisch.

Pramme: So entpolitisiert ist die Stadt auch gar nicht, wenn man mal die letzten zehn Jahre zurückgeht. Solche Initiativen wie Media-Spree, Volksbegehren, jetzt bei euch in Kreuzberg Bizim Bakkal, dass sich Leute plötzlich stark machen und gegen hohe Mieten und Spekulationen solidarisieren, das gibt es ja alles.

André Giogoli

geboren 1962 in Bad Harzburg, kam 1985 nach Berlin. Er ist Fotograf und Lehrer für Fotografie an einer Berufsfachschule. Gelebt hat er immer in Westberlin: in Wedding, Neukölln, Kreuzberg und Friedenau.

Streisand: Endlich!

Taşdemir: Ja, Bizim Kiez, Kotti & Co., das sind natürlich tolle Sachen und von einer breiten Masse getragen, egal, welcher Ethnie und welcher Schicht. Also wir haben so viele Gemeinsamkeiten, aber wo ist die Bewegung dazu?

Aber dass eine große politische Bewegung fehlt, ist das denn wirklich noch ein Ost-West-Problem?

Taşdemir: Ich sehe die Linien eher zwischen arm und reich. Es begegnen einem an jeder Ecke diese neoliberalen Sprüche: ­“Jeder ist seines Glückes Schmied“, solche Sätze bekommt mein Sohn regelmäßig in der Schule vorgekaut. Und ich denke mir: Ja natürlich, aber es gibt auch Voraussetzungen, dass man in eine bestimmte Position gerät.

Streisand: Da wird es auch wieder ein Ost-West-Problem, weil die Ossis keine Eltern haben, die ihnen Häuser, Weinberge oder sonst was vererben. Die Westler sind einfach reicher.

Stephan Pramme

1976 in Potsdam geboren. Dass Berlin nicht als Geburtsort in seinem Ausweis steht, bedauert er bis heute. Trotzdem ist und bleibt er Ostberliner. Er ist freier Fotograf und lebt seit Vor-Wende-Zeiten in Prenzlauer Berg.

Zum Schluss müssen wir natürlich noch kurz über den 3. Oktober reden. Bedeutet euch der Tag überhaupt etwas?

Streisand: Ich habe mich ein bisschen vorbereitet und noch mal die Gespräche zwischen Peter Ensikat und Egon Bahr gelesen. (Holt ein Buch aus ihrer Tasche) Ich zitiere: „Dass wir den 3. Oktober als Tag der Einheit begehen, ist im Grunde falsch. Der 3. Oktober ist der Tag von Helmut Kohl. Er wollte so früh wie möglich, also so früh es die Verfassung erlaubte, einen Wahltermin haben, bevor der Bevölkerung klar werden konnte, welche schrecklichen Auswirkungen die vorschnell eins zu eins eingeführte Währungsumstellung haben würde.“ Sagt Egon Bahr. Meine westdeutschen Freunde werfen mir das heute noch vor: „Ihr seid schuld, dass der noch mal gewählt wurde.“

Giogoli: Ja, der 3. Oktober ist eigentlich der falsche Feiertag. Von meinem Gefühl her ist ganz klar der 9. November der Gedenktag, auch weil über die über die Jahrzehnte so viel an diesem Datum passiert ist.

Taşdemir: Für mich ist es auch immer noch der 17. Juni und der 9. November. Wegen der Kristallnacht.

Streisand: Ja, aber genau wegen der Pogromnacht möchte ich diesen Tag nicht feiern.

Pramme: Von der Bedeutung her wäre es auch für mich eher der 9. November. Kein Feiertag, aber eben der Tag, der die deutsche Geschichte besser beschreibt.

Taşdemir: Als ich jetzt diese ganzen Coca-Cola-Plakate zur Einheitsfeier gesehen habe, dachte ich: Das habt ihr euch echt verdient, dass diese Amibrause eure Einheit sponsert. Weil es ist ja nicht meine, immer noch nicht.