Schule für alle

Inklusion Das Kind und seine Entwicklung als Maßstab: Wie Schule für alle funktionieren kann, zeigt das Beispiel der freien Waldorfschule in Berlin-Kreuzberg

Von Heide Reinhäckel

Kreuzberger Mischung. An der Freien Waldorfschule Kreuzberg hat die Redewendung noch einmal eine ganz eigene Bedeutung. Denn an der Schule in der Berliner Ritterstraße lernen bereits seit 2003 nicht-behinderte und behinderte Schüler in einem Klassenzimmer. Sechs Jahre bevor Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnete, die auf ein inklusives Bildungssystem für alle Kinder abzielt, startete dort bereits eine gemeinsame Klasse für Kinder mit und ohne Einschränkungen. Seitdem werden vor allem Förderschüler mit physisch-motorischen Einschränkungen in die Schulgemeinschaft integriert.

„In einer Inklusionsklasse sind ungefähr 20 normale Kinder und sechs Kinder mit besonderen Bedürfnissen“, berichtet Ingrid Hüchtker. Die Waldorflehrerin und Lehrerin für Sonderpädagogik unterrichtet seit elf Jahren Inklusionsklassen an der Kreuzberger Waldorfschule. Die integrative Gesamtschule ist seit der Einführung der Inklusionsklassen zweizügig: Neben den normalen Klassen gibt es in jeder Klassenstufe eine Inklusionsklasse. Nicht nur die Zusammensetzung der Klassen ist anders, auch die Betreuung unterscheidet sich: Die Inklusionsklassen werden im Teamteaching von zwei Waldorf­lehrern unterrichtet, von denen mindestens einer auch Sonderpädagoge ist. Jede Klasse hat mindestens zwei Räume, sodass sich kleinere Gruppen auch einmal zurückziehen können.

Für Hüchtker liegen die Vorteile und Potenziale des gemeinsamen Lernens von der ersten Klasse an auf der Hand: „Die Schüler profitieren vom intensiven sozialen Miteinander. Sie lernen, sich besser aufeinander einzustellen und dass es unterschiedliche Arten zu sein gibt.“ Die Prämissen der Waldorfpädagogik, dass es beispielsweise immer mehrere Lernzugänge gebe und dass jedes Kind so angenommen wird , wie es eben ist, würden der Inklusionspraxis helfen, dennoch sei es eine ständige Aufgabe, immer jedem Schüler gerecht zu werden.

Dieses Jahr hat die erste eingeschulte Inklusionsklasse die Schule beendet. Das integrative Konzept hat seit seiner Einführung vor zwölf Jahren zu vielen Veränderungen geführt. Beispielsweise bietet die Schule in der Unterstufe das Hengstenbergturnen als spezielle Förderung für die motorische Entwicklung an, von dem alle Schüler profitieren. Seit zwei Jahren ist zudem in der Oberstufe die berufliche Orientierung ein wichtiges Thema. Denn mit dem Älterwerden der Inklusionsklassen stand immer dringlicher die Frage im Raum, wie besonders für die Förderschüler ein guter und geeigneter Übergang in die Berufswelt gefunden werden könne. „Besonders für Inklusionsklassen ist die Berufs­orientierung wichtig. Deshalb hat die Kreuzberger Waldorfschule drei Werkstätten eingerichtet“, erzählt Hüchtker. Eine Fahrrad-, eine Schneider- und eine Siebdruckwerkstatt sowie der Küchenbereich bieten Oberstufenschülern Kontakt und erste Erfahrungen mit möglichen Berufsfeldern. Wichtig ist den Kreuzberger Pädagogen aber auch ein guter Draht zur echten Arbeitswelt. Deswegen arbeitet die Schule am Aufbau eines Netzes für außerschulische Praktikumsstellen und kooperiert mit den Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung.

Unterschiede akzeptieren

Welche Ausstrahlung Modelle wie in Kreuzberg haben, hängt nicht zuletzt vom gesellschaftlichen Umfeld ab. Trotz der täglichen integrativen Praxis im Kreuzberger Klassenzimmer bleibt für Hüchtker, die momentan eine dritte Klasse unterrichtet, gesellschaftlich noch viel zu tun: „Ich wünsche mir, dass nicht immer auf die Defizite geschaut wird, sondern dass es mehr Akzeptanz für Unterschiedlichkeit gibt.“ Die gesellschaftliche Debatte über die Möglichkeiten, Grenzen und Kosten der Inklusion hält nach wie vor an. Doch welche Rolle kommt dabei der Waldorfpädagogik zu? „Waldorfschulen haben schon immer mit integrativen Konzepten gearbeitet. Aber die aktuelle gesellschaftliche Inklusionsdebatte wird natürlich auch an den Waldorfschulen geführt und führt zu Veränderungen“, sagt Henning Kullak-Ublick vom Bund der Freien Waldorfschulen.

Dass diese Schulform, wie das Beispiel der frühen Inklusionsklassen in Kreuzberg zeigt, auch Innovationen hervorbringt, zeigt etwa die diesjährige Verleihung des Jakob-Muth-Preises. Mit dem von der Bertelsmann-Stiftung seit 2009 vergebenen Preis werden jährlich Schulen ausgezeichnet, die sich mit Erfolg besonders um Inklusion bemühen. Unter den vier diesjährigen Preisträgern ist auch eine integrative Waldorfschule, in diesem Fall aus Baden-Württemberg.