Wunderkind trifft Flüchtling

Literatur Das 15. Internationalen Literaturfestival Berlin zeigt sich politisch und rückt die Situation der Flüchtlinge in den Vordergrund

Die Wirklichkeit ist „eine erbärmliche Schriftstellerin“, sagte Javier Marías in seiner Eröffnungsrede zum 15. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb). Sie werfe „mal allzu viel Licht, mal allzu viel Dunkel“ auf die Dinge. Um etwas Realistisches zu erzählen, brauche es den Filter der Vorstellung, so der spanische Romancier.

Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, die gerade ihren Roman „Gehen, ging, gegangen“ über die Flüchtlinge am Oranienplatz veröffentlichte, diskutierte mit dem Filmemacher Jakob Preuss und dem libyschen Arzt und Poet Ashur Etwebi über die europäische Einwanderungspolitik. Erpenbeck kritisierte den „Wahnsinn der Bürokratie“, der den Menschen nur Steine in den Weg lege. Es brauche, so Preuss, „mehr Flexibilität als Gründlichkeit“, um den Menschen die Chance zu geben, hier anzukommen. Zumal die meisten ohnehin in ihre Heimatländer zurückwollen, so wie der Libyer Etwebi, der inzwischen in Norwegen lebt und lieber heute als morgen zurückgehen möchte.

Stars und Nobelpreisträger

Das ilb ist in den letzten 15 Jahren zu einem der bedeutendsten Literaturfestivals weltweit gewachsen, 218 Autoren aus 51 Ländern sind in diesem Jahr an 244 Veranstaltungen beteiligt. Darunter auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der in den kommenden Tagen über islamistischen Terror und die Ursachen von Vertreibungen sprechen wird. Ebenso die syrische Autorin Samar Yazbek. Bis Samstag stellen unter anderem Martin Amis seinen vieldiskutierten Auschwitz-Roman „Interessengebiet“ vor, Amir Hassan Cheheltan die Originalfassung seines im Iran zensierten Werks „Iranische Dämmerung“, Richard Flanagan sein mit dem Man Booker Prize ausgezeichnetes Buch „Der schmale Pfad durchs Hinterland“, Adelle Waldman ihren Überraschungserfolg „Das Liebesleben des Na­thaniel P.“ und Zeruya Shalev ihren autobiografisch motivierten Roman „Schmerz“.

Österreichs Wunderkind Clemens J. Setz präsentierte seinen sehnsüchtig erwarteten Großroman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (ebenfalls Buchpreis-Kandidat) bereits am Vorabend der Festivaleröffnung. Er sprach über die Weltflucht seiner Heldin Natalie und die Achterbahnfahrt des Lesers auf den Bahnen ihrer Hirnwindungen. „Alles, was in einem Kopf spielt, wird da aufgemacht, und man muss ganz tief rein“, erklärte Setz. Mit dieser vollkommenen Innenansicht habe er die Grenzen des herkömmlichen Erzählens sprengen wollen, jedoch ohne den Anspruch, dass das immer verständlich ist. „Nur weil etwas aussichtslos ist, heißt es nicht, dass es sinnlos ist“, rechtfertigte Setz seinen mal wieder besonderen Roman, der uns Leser ungläubig Staunen lässt.

So wie das Christentum den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani. In seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ singt er, ausgehend von der christlichen Bildkultur, das Hohelied auf das Sinnliche und Schöne des Religiösen. Darin liege ein politischer Moment, erklärte er beim ilb, denn „wenn Religion zusammenschrumpft auf die wörtliche Bedeutung der Schriften, dann schlägt sie um in Gewalt und die Texte werden zu Dynamit“. Zu beobachten kürzlich in Palmyra oder im vergangenen Jahr in Deir al-Sur. Dort zerstörte der IS die Gedenkstätte des armenischen Genozids. Als Varujan Vosganians sein ebenso erschütterndes wie wunderbares „Buch des Flüsterns“ vorstellte, in dem er von diesem Völkermord und „all den Krankheiten des 20. Jahrhunderts“ erzählt, sprach er auch über die syrischen Flüchtlinge.

Sie erinnerten ihn sehr an die Armenier vor hundert Jahren. „Das 20. Jahrhundert ist zu Ende, aber es ist noch nicht vorbei. Das ist es erst, wenn wir seine Lektionen gelernt haben.“

Thomas Hummitzsch