Halal-Schlachter und Chihuahua-Frisöre

Lidokino 5 Regisseur Frederick Wiseman erzählt in Venedig von der Notwendigkeit des Redens

Frederick Wiseman Foto: Claudio Onorati/dpa

Frederick Wiseman trägt einen senffarbenen Sommeranzug, als er, begleitet von Alberto Barbera, dem Direktor der Mostra, in der Sala Grande eintrifft. Ein kleiner Mann, hager, die Ohren stehen fröhlich vom Kopf ab, 85 Jahre ist er alt. In einem Gespräch, das ich vor einigen Jahren mit ihm in Venedig führte, sagte er, es halte ihn jung, etwas zu tun, was er liebe. Dass er sich dabei regelmäßig in eine neue Materie einarbeite (zum Beispiel in ein Boxstudio, eine Nationalgalerie, ein Opernhaus, eine Eliteuniversität oder einen Nachtclub), schade nicht. Die meisten Besucher der Sala Grande erheben sich von ihren Sitzen, um ihm zu applaudieren.

Die Materie, mit der sich der große US-amerikanische Dokumentarist diesmal vertraut gemacht hat, ist Jackson Heights, ein Viertel von Queens. Das Resultat, ein mehr als dreistündiger Film, der bei der Mostra außer Konkurrenz läuft, heißt lapidar „In Jackson Heights“. Geduldig verfolgt Wiseman, was in der Gegend rund um die Kreuzung von 82. Straße und Roosevelt Avenue vor sich geht. Das Besondere daran ist, dass es in diesen Straßenzügen so multikulturell wie sonst nirgends auf der Welt ist. Einwanderer aus Lateinamerika und Asien leben hier, viele von ihnen sind noch nicht lange in den USA – und nicht alle haben die nötigen Papiere, um ihren Status zu legalisieren. Wiseman besucht Gemeindesäle und Meetings, hört LGBT-Aktivisten zu und Angestellten, die in ihren Jobs mies behandelt werden. Er filmt eine 98 Jahre alte Dame, die gegenüber anderen alten Damen erklärt, wie einsam sie sei, seit alle ihre Freunde und Angehörigen gestorben seien. Und er trifft auf die Inhaber kleiner Läden, denen das Aus droht, weil ihre Mietverträge nicht erneuert werden. Das Gespenst der Gentrifizierung hat Queens erreicht – und die Gewerbe­treibenden, die Halal-­Schlachter, Augenbrauenbegradigerinnen, Imbissbetreiber, Chihua­hua-Frisöre und Faxladeninhaber wissen nicht, wie sie es verscheuchen können.

Dabei wird nicht nur deutlich, was für eine reiche Infrastruktur entsteht und wie elaboriert den entlegensten Bedürfnissen entsprochen wird, sobald Menschen aus aller Herren Länder sich an einem Ort ansiedeln – es wird auch deutlich, wie bedroht dieser Reichtum ist, sobald Starbucks- und Gap-Filialen sich ausbreiten. Und noch etwas tritt in Wisemans aufmerksamen, zugewandten Beobachtungen zutage: die Notwendigkeit des Redens.

Wer den Menschen in „In ­Jackson Heights“ dabei zuhört, wie sie ihre Erlebnisse schildern oder ihre Interessen formulieren, wie sie einander beraten und beistehen, mal auf Spanisch, mal auf Englisch, mal auf Urdu, bekommt großen Respekt vor der Entschlossenheit, sich auszutauschen, einen gemeinsamen Raum zu teilen und zu gestalten. Nicht zu vergessen Wisemans Sinn für Humor: In einer längeren Szene verfolgt man eine Unterrichtsstunde für angehende Taxifahrer. Die Männer kommen aus Pakistan, Indien, Bangladesch oder Nepal, und der Dozent unternimmt mit ihnen eine sehr lustige mnemotechnische Übung, damit sie, sobald sie am Steuer sitzen, wissen, wo welche Himmelsrichtung ist. Über „nose“ kommt er zu „North“, über „shoes“ zu „South“, über „eating“ (was man in den Herkunftsländern der Männer stets mit der rechten Hand tut) zu „East“ und zu „West“ über „washing“ – was man nach dem Stuhlgang tut, und zwar stets mit der linken Hand. Cristina Nord