WG statt Altenheim

WOHNPROJEKT Ohne die junge Studentin Anne Mittelbach würde Marlies Schmidt längst nicht mehr in ihrer Wohnung leben. Sie hat sich für eine WG entschieden, die Alt und Jung zusammen bringt. Doch klappt das Zusammenleben auch?

„Die Jugendlichen sind ganz anders strukturiert als wir das mal gewesen sind. Da kann es schon Reibungspunkte geben“

Ilka Dirnberger vom Landesseniorenrat Niedersachsen

Für Marlies Schmidt ist das Zusammenleben mit Anne Mittelbach ein Glücksfall. Vor zwei Jahren zog die junge Studentin bei Schmidt ein. Eine besondere Wohngemeinschaft, denn die beiden Frauen trennen 55 Jahre. Für Außenstehende ungewöhnlich, für die WG-Partnerinnen völlig normal. „Wir haben uns von Anfang an gut verstanden“, sagt Schmidt. „Ich kann gut mit jungen Leuten, im Kopf bin ich jung geblieben.“

Ihre WG haben die beiden im Rahmen des Projekts „Wohnen für Hilfe“ gegründet, das vom Seniorenservice der Stadt und dem Studentenwerk Hannover getragen wird. Für Schmidt ist die junge Studentin eine Bereicherung. Ohne das Projekt würde sie heute in einem kleinen Zimmer in einem Altenheim leben, erzählt sie.

Die 78-Jährige leidet seit Jahren an chronischer Bronchitis und ist rund um die Uhr auf ein Sauerstoffgerät angewiesen. Ihr Leben spielt sich in ihrer achtzig Quadratmeter großen Wohnung ab. Nach draußen kann sie nicht mehr, denn ohne Atemgerät reicht die Luft nur für eine Stunde. Die alltäglichen Arbeiten im Haushalt fallen ihr mittlerweile schwer. Für zehn Stunden im Monat übernimmt daher Schmidts Mitbewohnerin kleine Hausarbeiten wie Einkaufen, Waschen oder Spülen.

Laut Vertrag leistet die Studentin pro Quadratmeter ihres Zimmers monatlich eine Stunde Unterstützung. Im Gegenzug zahlt sie keine Miete. Pflegerische Tätigkeiten sind ausgeschlossen. Der finanzielle Aspekt ist für die 23-Jährige zwar nicht unwesentlich, aber auch nicht der Hauptgrund, weshalb sie sich für das Wohnen mit einer älteren Mitbewohnerin entschieden hat.

Der Wohnungsmarkt in Hannover ist schwierig, erzählt Anne Mittelbach. Es gibt nicht genug erschwinglichen und freien Wohnraum für die derzeit knapp 44.000 Studenten in Hannover. Auch der Trubel einer WG mit jungen Leuten oder in einem Wohnheim lagen ihr nicht. Also bewarb sie sich und wurde kurz darauf mit Marlies Schmidt bekanntgemacht.

Für Ilka Dirnberger vom Landesseniorenrat Niedersachsen gehört für das Zusammenleben mit der anderen Generation viel Toleranz dazu. „Die Jugendlichen sind ganz anders strukturiert als wir das mal gewesen sind“, sagt Dirnberger. Da könne es schon Reibungspunkte geben. Für Dirnberger ist wichtig, dass die Bereitschaft zum miteinander Wohnen von beiden Seiten ausgeht.

In rund 30 Städten gibt es das Wohnprojekt mittlerweile, in München bereits seit 20 Jahren. In Hannover sind seit 2012 so 19 Wohnpartnerschaften entstanden, auch in Göttingen und Osnabrück läuft das Modell. „Die Motivationen und Hilfsbedürfnisse können unterschiedlicher nicht sein“, erklärt Sozialarbeiterin Simone Keil, die das Projekt betreut. Es melden sich Senioren, deren Wohnung oder Haus inzwischen zu groß geworden ist, die sich eine größere Sicherheit oder kleine Hilfen im Alltag wünschen. So entsteht eine „Win-Win-Situation“ für beide Seiten. Bisher interessieren sich allerdings mehr Studenten für dieses Projekt als Senioren.

Seit Anne Mittelbach bei Marlies Schmidt wohnt, sind moderne Zeiten eingezogen. Die neue Kaffeemaschine wird nun im Internet bestellt. (dpa)