Merkels Bahnhof

Berlins Bürgermeister Wowereit droht über den Hauptstadt-Flughafen zu stürzen. Doch wen wird das Milliardengrab in Stuttgart mit in die Tiefe reißen? Oder wird es die Kanzlerin schaffen, rechtzeitig vor der Bundestagswahl einen Schuldigen zu finden?

von Hermann G. Abmayr

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) im Wahlkreis von Volker Kauder, dem mächtigen Fraktionschef der CDU/CSU im Bundestag, hat für die Jubelveranstaltung in der Messehalle von Villingen-Schwenningen weder Kosten noch Mühe gescheut. 48.000 Euro investierte sie für den Auftritt der Kanzlerin im „grün-roten Feindesland“, wie es ein Beobachter nannte. 660 Liter Bier haben die Merkel-Fans gekippt, 280 Flaschen Rot- und 200 Flaschen Weißwein geleert sowie 1.500 Tassen Kaffee. Dazu gab es 18.000 Kanapees, Gemüsespieße, Salate im Glas, Dessert und andere Köstlichkeiten.

Endlich war man mal wieder unter sich. Neben den Chefs kleiner und großer Unternehmen, den Bankern der Region und Möchtegern-Promis standen Bundestagsabgeordnete, Landräte und Bürgermeister umeinander und ließen es sich gut gehen. Endlich konnte man wieder einmal zeigen, dass Baden-Württemberg noch nicht ganz verloren ist.

Die Festrednerin trug das Ihre dazu bei. „Es kann nicht sein“, sprach Angela Merkel, „dass wir nicht mehr in der Lage sind, große Verkehrsinfrastrukturprojekte in unserem Lande überhaupt noch hinzubekommen.“ Gemeint waren, natürlich, der Berliner Flughafen und Stuttgart 21, an dem sich bekanntlich die „Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ beweise. Lang anhaltender Applaus der 2.400 Festgäste.

Immerhin: Tiefwasserhafen wurde termingerecht fertig

Das Debakel um die Großprojekte würde „Deutschlands weltweitem Ruf als zuverlässiger Wirtschaftspartner“ schaden, sagte die Kanzlerin weiter und drohte mit der „harten Konkurrenz“ durch Länder wie China, dessen Hochgeschwindigkeitsnetze sie hervorhob. Diese Netze – und das sagte Merkel nicht – wurden und werden ohne demokratisch legitimierte Verfahren gebaut. Von einer Bürgerbeteiligung ganz zu schweigen. Früher war dies auch für die CDU typisch für eine kommunistische Diktatur. Aber das war früher.

Ein Glück, dass es noch Niedersachsen gibt. „Umso froher“ sei sie, betonte Merkel, „dass ich zurzeit Wahlkampf in einem Land mache, das immerhin einen hochseetauglichen Tiefwasserhafen für Containerschiffe in Wilhelmshaven zustande gebracht hat“. Er sei „termingerecht fertig und nicht teurer geworden als veranschlagt“.

Die Aufsichtsräte der Deutschen Bahn AG können davon nur träumen. Trotz des Milliardendesasters bei Stuttgart 21, das die Bahn Mitte Dezember einräumen musste, gab es in dem Kontrollgremium bisher keine personellen Konsequenzen. Der Vorsitzende Utz-Hellmuth Felcht – Merkels Kabinett berief ihn Anfang 2010 – ist im Gegensatz zu seinem Aufsichtsratskollegen Klaus Wowereit immer noch im Amt. Der Multimillionär ist Partner eines Finanzinvestors, der zu den „Heuschrecken“ gezählt wird, der OEP (One Equity Partners). OEP verwaltet weltweit etliche Milliarden Dollar und Beteiligungen für JP Morgan Chase. Früher war Felcht Chef des Chemieriesen Degussa.

Die Arroganz der Macht scheint der 66-Jährige längst verinnerlicht zu haben. So erklärte er dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags, der ihn jüngst aus Sorge um S 21 eingeladen hatte, der Aufsichtsrat der Bahn sei gegenüber dem Ausschuss grundsätzlich nicht auskunftspflichtig. „Ich werde deshalb nicht an der Sitzung teilnehmen.“ Diesmal brauchte er es nicht. Auf Antrag der schwarz-gelben Koalition ist der Punkt S 21 von der Tagesordnung gestrichen worden. Geplant war der Termin für den 16. Januar.

Eine Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass Bahnchef Rüdiger Grube und Technikvorstand Volker Kefer bis heute nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihren Aufsichtsrat umfassend über die Hintergründe der veranschlagten Kostensteigerungen von 4,5 auf mindestens 5,6 Milliarden Euro sowie weiteren „Kostenrisiken“ von 1,2 Milliarden Euro zu informieren. Die Intransparenz, die Grube mittlerweile seinem Vorgänger Hartmut Mehdorn öffentlich vorwirft, setzt der Nachfolger damit nahtlos fort. Dasselbe trifft die Partner Stuttgart und Baden-Württemberg, die das Bahn- und Immobilienprojekt mit etwa zwei Milliarden Euro subventionieren. Auch sie warten weiterhin auf belastbare Zahlen. Dass Grube damit gewählte Vertreter des Volkes brüskiert, mag ihm als lässliche Sünde erscheinen.

Anderswo ist das nicht so einfach. Als das S-21-Debakel im Dezember bekannt wurde, hat auch die Thyssen-Krupp AG milliardenschwere Fehlinvestitionen öffentlich gemacht. Die zwei verantwortlichen Vorstandsmitglieder mussten ihren Schreibtisch räumen, Schadenersatzklagen sind nicht ausgeschlossen. Das erwägt auch Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck, der neue Chef des Kontrollgremiums des Berliner Großflughafens. Und bei der Bahn? Die Aufsichtsräte haben Grubes Missmanagement sogar belohnt. Sie verlängerten seinen Vertrag im Dezember, obwohl er erst Ende 2014 ausläuft, um weitere fünf Jahre.

Man sieht sie nicht, die Vertreter der Beschäftigten

Warum das so ist? Grubes Verbündete im Aufsichtsrat sind auch die zehn Interessenvertreter der Bahnbeschäftigten. Alexander Kirchner, der Chef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), ist stellvertretender Vorsitzender. Er steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Einerseits haben sich die Gewerkschafter und Bahnbetriebsräte seit Jahren mit dem Bahnvorstand und Verkehrsminister Peter Ramsauer (CDU) verbündet, um die von der Europäischen Kommission und etlichen Politikern (von der FDP bis zu den Grünen) angestrebte Zerschlagung des Bahnkonzerns zu verhindern, da sie dadurch erhebliche Nachteile für die 280.000 Beschäftigten befürchten. Andererseits droht der Bahn wegen S 21 ein gigantisches Kosteneinsparprogramm. Je mehr Geld Grube und Kefer für unberechenbar teure Großprojekte ausgeben, desto größer wird der Druck. Und das könnte die EVG bei den anstehenden Tarifrunden in die Defensive treiben. Noch schlimmer wären Sparprogramme bei Lohn und Gehalt. Dann würden der Gewerkschaft die Mitglieder scharenweise davonlaufen.

Alternativen zur Rechtsform der AG wurden nicht diskutiert

So rächt sich der Kurs, den die Eisenbahnergewerkschaft unter ihrem früheren Vorsitzenden Norbert Hansen eingeschlagen hatte. Nicht die Bahnkunden und ihre Fahrgastverbände wurden als Bündnispartner angesehen, sondern der Bahnvorstand unter Grubes Vorgänger Hartmut Mehdorn, der das Unternehmen an die Börse bringen wollte. Nicht das Gemeinwohl und das der Bahnbeschäftigten standen im Mittelpunkt, sondern die Liberalisierung, die CDU, SPD, FDP und Grüne mit der Privatisierung der „Beamtenbahn“ Anfang der 90er-Jahre eingeleitet hatten. Eine Alternative zur Rechtsform der Aktiengesellschaft hat die Gewerkschaft erst gar nicht gefordert.

Die Diskussion darüber wird aber auch in bahnkritischen Kreisen bis heute kaum geführt. Was spräche gegen ein genossenschaftliches Modell, was gegen eine öffentlich-rechtliche oder eine andere Lösung? Wie müsste eine effektive Kontrolle aussehen, die sich an Kriterien wie Gemeinwohl, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und umweltfreundlicher Verkehrspolitik orientiert? Und wie könnten die Kunden einbezogen werden? Nur wer auf diese Fragen eine schlüssige Antwort hat, kann die Zerschlagung der Bahn verhindern und würde dafür Bündnispartner finden. Doch das interessierte den früheren Chef der Bahngewerkschaft Hansen nicht. Belohnt wurde er dafür mit dem bestens dotierten Posten des Arbeitsdirektors im Vorstand der Bahn AG. Ob sich Nachfolger Alexander Kirchner und seine Kollegen von Hansen emanzipieren werden, bleibt abzuwarten.

Die übrigen zehn Aufsichtsräte der Staats-AG hat die Bundesregierung bestimmt. Es sind je ein Staatssekretär des Verkehrs-, Wirtschafts- und Finanzministeriums, der Bundestagsabgeordnete und FDP-Bundesgeschäftsführer Patrick Döring sowie sechs Wirtschaftskapitäne. Neben dem Vorsitzenden Utz-Hellmuth Felcht der Stahlbaron, Energie- und Atomlobbyist Jürgen Großmann. Er gehört zu den hundert reichsten Männern in Deutschland, war bis Mitte 2012 Chef des Energiekonzerns RWE und ist geschäftsführender Gesellschafter der Georgsmarienhütte. Aufsichtsräte sind zudem das ehemalige Eon-Vorstandsmitglied Christoph Dänzer-Vanotti, der frühere Vorstand der Deutschen Bank Jürgen Krumnow, der Unternehmer Knut Löschke sowie Heinrich Weiss, Großaktionär des Anlagen- und Maschinenbauers SMS und einst als BDI-Funktionär und dessen Vorsitzender wichtiger Lobbyist der deutschen Industrie.

Warum kann Ramsauer so tun, als ginge ihn S 21 nichts an?

Die Frage lautet also: Warum überlassen die Volksvertreter diesem Aufsichtsrat so existenzielle Entscheidungen wie die über Stuttgart 21? Warum kann Verkehrsminister Peter Raumsauer so tun, als ginge ihn das Projekt nichts an? Die Bundesrepublik Deutschland, so der Esslinger Rechtsanwalt Arne Meier, sei zwar Eigentümerin der Deutschen Bahn AG. Doch die Aufsichtsräte seien für ihr Abstimmungsverhalten selbst verantwortlich. Vorgaben Dritter, auch des Eigentümers, befreiten sie nicht von ihrer persönlichen Haftung. Dennoch könne der Aufsichtsrat die Entscheidung dem Eigentümer überlassen. Dazu müsse lediglich eine Hauptversammlung einberufen werden. Dann entscheide die Regierung – womit der Ball wieder da wäre, wo er hingehört. Bei Angela Merkel.

Auch der Bundestag müsste sich in diesem Falle wieder, wie es sich für eine parlamentarische Demokratie gehört, mit den Grundsätzen der Bahnpolitik befassen. Sicher wäre dies auch ein Wahlkampfthema, bei dem es dann nicht nur darum ginge, wer für Wohl und Wehe des einstigen „Zukunftsprojekts“ S 21 verantwortlich ist. Angela Merkel hatte den unterirdischen Verkehrsknoten in Stuttgart jedenfalls schon seit geraumer Zeit zu ihrer Sache gemacht. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Bei der Landtagswahl 2011 und bei der Stuttgarter OB-Wahl 2012 ist die CDU-Vorsitzende mit ihrer Partei kläglich gescheitert. Wie die Kanzlerin, ihr Fraktionschef Kauder und deren Berater vor der Bundestagswahl eine dritte Schlappe verhindern wollen, konnte (oder wollte) Angela Merkel auch bei der Jubelfeier in Villingen-Schwenningen nicht verraten.