VOR DER HEIMREFORM Sozialarbeiterin Anne Schuster erinnert sich an ihre Zeit in einem geschlossenen Heim im Schleswig-Holstein der 1970er-Jahre. Gewalt war an der Tagesordnung, aber es drang kein Wort nach außen
: „Wir waren der letzte Dreck“

Zur Begrüßung Schuhe weg: auch davon berichten ehemalige Heimkinder­  Foto: Zeichnung: Imke Staats

Interview Kaija Kutter

taz: Frau Schuster, Sie waren vor 40 Jahren als zwölfjähriges Mädchen in einem Heim und sind heute selber Sozialarbeiterin. Wie hat das Ihre Arbeit geprägt?

Anne Schuster*: Ich arbeite im niedrigschwelligen Bereich mit Jugendlichen, die mal in Heimen waren oder dorthin sollen. Es gibt nach wie vor Heime mit strengen Konzepten. Wenn mir Jugendliche davon erzählen, ist das wie eine Zeitreise.

Wie war es denn damals?

Ich hab diese Zeit lange verdrängt. Es klingt verrückt, ich weiß nicht mal wie das Heim hieß, nur, dass es in Schleswig-Holstein lag. Es war ein Gelände im dunklen Wald mit einer Art Exerzierplatz davor. Es gab einen Jungs- und einen Mädchentrakt, und der Hof war durch eine Mauer geteilt. Bei uns war die Wäscherei, bei den Jungs die Tischlerei. Wir sahen die nur, wenn die Wäsche holten oder Essen angeliefert wurde.

Wieso kamen Sie da hin?

Ich weiß noch verschwommen, zu Hause lief es nicht gut. Mein Vater, der für mich als Kind irre wichtig war, hatte Geldsorgen, musste viel arbeiten. Und meine Mutter lebte ihre eigene Welt. Ich war Turnerin im Verein und als „Küken“ in der Clique mit älteren Jugendlichen unterwegs. Ich habe aus heutiger Sicht verrückte Sachen gemacht, auch Sachen geklaut. Ich war ja sportlich und dünn und konnte durch jede Luke. Ich bin auch nach Jugoslawien getrampt und hab Geld mit Kunstspringen von den Klippen verdient. Für mich war das völlig angstfrei, sozialpädagogisch betrachtet würde man das heute „hohe Risikobereitschaft“ nennen. Ein Pastor, der sich Sorgen machte, brachte mich zum Jugendamt. Ich fand den Mann dort komisch und wollte nicht mit dem reden. Als mich kurz darauf die Polizei in einer anderen Stadt aufgriff, ging es ab ins Heim.

Wann war das?

Etwa Februar 1973. Das Heim war eine andere Welt. Mir war sofort klar, hier kommst du nicht raus. Ich fand die Räume irre riesig. Es gab Vier-Bett-Zimmer, Einzelzimmer, eine Isolierzelle und Ruh-Säle. Da mussten wir tagsüber eine Stunde liegen, ohne einen Pups zu sagen, die Augen sollten zu sein oder an die Decke gerichtet. Da heulten dann auch Mädchen. Die hatten Angst. Die wollte ich nicht haben.

War das Mittagsschlaf?

Nein, dafür waren wir zu alt. Das war zur Disziplinierung.

Wie war die Begrüßung dort?

Ich hab‘ da wohl zu locker gestanden, da ging es gleich ab. „Ah, hier die Neue! Nimmst du die mal unter deine Fittiche.“ Dann gleich Klo putzen mit Unterrand von innen mit einer Zahnbürste. Ich hab noch nie so ein schlimmes Klo geputzt. Das war so von Durchfall verdreckt, dass ich mich übergab. Die Kotze musste ich auch wegmachen.

Schöne Begrüßung. Und dann?

Ich kam in ein Vierer-Zimmer. Da hab ich eine wiedererkannt von draußen. Uns war sofort klar, das dürfen wir niemand sagen. Wir haben dann mit den anderen zwei Blutschwur gemacht, dass sie schweigen. Wir haben uns da sofort solidarisiert. Das klingt jetzt sozialromantisch, aber wir Mädchen haben füreinander gesorgt.

Wie waren die Betreuer?

Das waren matronenhafte Frauen in weißen Kitteln. Uns haben die gesagt: Wir werden euch so zurichten, dass ihr draußen funktioniert.

Durften Sie das Haus verlassen?

Nein. Küchenarbeit, Wäsche, Schule, alles fand nur im Gebäudetrakt statt. Aber abends waren die Erwachsenen meist früh betrunken und bekamen wenig mit. Für uns war die Frage: Wie kommt man hier raus? Unten waren Gitter, aber im Obergeschoss nicht. Ich war ja zum Glück so sportlich. Bin nachts wie eine Katze raus aufs Dach geklettert, da gab es so ein Stück Flachdach, auf dem ein Stacheldrahtzaun den Jungsbereich abgrenzte. Später spannten wir Seile, damit wir nicht runterfallen, und sind nachts regelmäßig auf das Dach. Da trafen wir uns heimlich mit den Jungs und tranken Alkohol, den wir aus der Speisekammer hatten.

Und? Sind Sie weggelaufen?

Ja einmal am Anfang. Dummerweise lief ich im Wald im Kreis. Danach kam ich in die Zelle im Keller. Ein kalter Raum mit Pritsche, ohne Decke. Licht an und aus regeln die. Du hast nichts, kannst dich an nichts orientieren. Da kam nachts so ein gruseliger Typ, der in der Küche arbeitete, an die kleine Scheibe in der Tür und wackelt mit der Zunge, um sexuelle Andeutungen zu machen. Hölle. Es hieß, ich war eine Nacht und einen Tag drin. Mir kam es vor wie eine Woche. Ich hatte keine Ahnung, komme ich da raus?

Und nach der Zelle?

Da hieß es, „du bist noch lange nicht fertig“. Ich kam in ein Einzelzimmer. Da saß immer eine Betreuerin hinter der offenen Zimmertür und überwachte mich. Sogar meine Toilettengänge, ob ich gekackt hatte oder nicht. Die haben mich umgedreht und meine Pobacken auseinander geschoben. Das war sehr, sehr erniedrigend.

Gab es ein Punktesystem?

Das war perfider. Wir mussten gehorchen. Ein Vergehen war, wenn du nicht angezeigt hast, was andere nicht richtig gemacht haben. Da gab es Strafaktionen für alle. Wir wurden nachts um 4 Uhr geweckt und im Schlafanzug in den Wald gescheucht. Laufen, Kriechen, Kniebeugen, Liegestütze, mit den Füßen immer hoch und runter auf den Baumstamm, solche Sachen. Hinten waren Bewacher und Wachhunde. Für die Mädchen, die nicht sportlich waren, war das richtig schlimm.

Was war Ziel der Aktion?

Wir sollten verraten, wer den Alkohol aus der Speisekammer klaut. Eine hat es schließlich verraten. Die hat dann später von uns Mädchen Schläge gekriegt. Das tut mir heute leid. Aber damals sah ich es so: Die, die dicht halten und denen es nicht gut geht, weil sie sich eh schon ritzen und so, bekommen durch die Verräterin noch mehr Druck.

Auf welche Weise?

Die Betreuer schafften Angstmach-Situationen. Es gab zum Beispiel ein abgezäuntes Stück Garten mit zwei kläffenden Schäferhunden drin. Da musste ich rein. Die dachten, ich krieg Angst. Hatte ich aber nicht, ich setzte mich einfach hin. Andere Mädchen liefen panisch hin- und her. Die wurden gebissen von den Hunden.

Gab es auch Schläge?

Vor allem für die Jungs. Die wurden schlimm geschlagen. Da hatten die Betreuer einen Rohrstock und eine Gerte aus Gummi, die Brennspuren hinterließ. Man sah dann später die Jungs mit den roten Striemen und sagte mitleidig: „Ach Kuddel, was hast du denn wieder gemacht?“

Mädchen schlugen die nicht?

Doch. Die Betreuer kamen dafür rüber. Dann ging‘s ins Einzelzimmer.

Passierte Ihnen das auch?

Ja. Aber die Schläge haben meinen Widerstand eher noch mobilisiert. Ich hatte dank meinem Vater eine innere Stärke. Er hatte mir Werte vermittelt wie Fairplay, auch du bist wer, keiner hat das Recht, sich über andere zu stellen. Lass dich nicht kleinmachen. Schlimm waren die Erniedrigungen. Sperrt man mich ein, drehe ich durch. Da löst sich mein Gehirn auf. Ich hab deshalb heute keine Türen in meiner Wohnung. Schlimm war auch das Essen. Graupensuppe, da schwammen teilweise Schamhaare und Nägel drin. Das mussten wir essen. Für uns reicht das, fanden die. Wir waren der letzte Dreck.

Was war das schlimmste Erlebnis?

Ich war einmal heimlich nachts duschen. Das war verboten. Ich bin ins Bad, lege meine Klamotten im Vorraum ab und mache leise die Tür zu. Da entdeckt mich eine von diesen Matronen. Sie macht die Tür auf, schiebt drei Jungs rein und schließt ab.

Haben die Ihnen was getan?

Ich hab mich gewehrt wie Hölle, aber ich hatte ja nur einen Waschlappen in der Hand. Wäre das nur einer gewesen, hätte man mit dem reden können. Ich kannte die ja vom Dach. Aber zu dritt mussten die die Vergewaltigung durchziehen. Sonst stehen sie nachher doof da. Die haben wir uns aber nachher gegriffen. Zu dritt haben wir Mädchen zwei der Jungs einzeln verprügelt. Das musste sein.

Dachten Sie nie daran, diese Betreuerin anzuzeigen?

In der Nachkriegszeitbis zur Heimreform der 70er-Jahre gab es in Schleswig-Holstein an die 80 Jugendheime, teils von Land, teils von den Kreisen oder freien Trägern betrieben. In den meisten war die Freizügigkeit mehr oder weniger eingeschränkt.

Nur über einen kleinen Teil der Heime gibt es noch Akten.Die, von denen man weiß, lagen in Oelixdorf, Selent, Glückstadt, Alt Bülk, Großenbrode, Heiligenstedten, Nütschau und Schleswig.

Hamburg hat bis auf wenige Exemplare im Staatsarchiv gar keine Heimakten mehr, weil alle vernichtet wurden.

Nie im Leben. Nie wären wir damals drauf gekommen, dass man uns glaubt. Und überhaupt: so viel Peinlichkeiten erzählen?

Durften Sie Briefe schreiben?

Ja. Alle 40 Mädchen in der Reihe saßen wir da und schrieben. Aber niemals, was da abging. Die Briefe wurden kontrolliert. Es fehlte uns auch eine Sprache dafür. Man schrieb vom Wetter, erfand einen Freibadbesuch, den es nie gab. Wenn da eine Neue so naiv war zu schreiben, „Mama ich will nach Hause“, die wäre in die Isolierzelle gekommen.

Wie kamen Sie raus?

Ich hatte Glück und kam nach acht Monaten raus. Irgendwann kriegten die spitz, dass von unserem Zimmer viel ausging und wir uns kennen. Widerlich war für mich, dass meine Freundinnen dort bleiben mussten. Sechs Jahre haben manche in dieser und anderen Anstalten für „schwer Erziehbare“ gelebt und sich nie erholt.

Und Sie?

Es begann ja die Heimreform. Ich kam in ein Wohnprojekt. Die Betreuer waren da richtig nett. Aber wir Jugendlichen konnten das nicht glauben. Wir haben das Haus angeguckt und gedacht: Und wo ist jetzt der Keller, wo sperren sie uns ein? Einen Betreuer haben wir sogar gefesselt und ihm die Kleider zerschnitten. Das hatte eine im Heim als Strafmethode erlebt. Der Mann fing an zu weinen. Das war für uns ein Schock. Das ist ja ein Mensch, der weint. Wir haben sofort aufgehört. Das ist eine Sache, für die ich mich noch heute schäme.

Wie wurden Sie Sozialarbeiterin?

Nachdem das mit dem Wohnprojekt nicht klappte, kam ich zu meinen Eltern. Die meinten: selber schuld, dass du im Heim warst. Aber ich ging wieder zur Schule und traf dort inzwischen auf tolle Lehrer, die an mich glaubten.

Die 68-Generation?

Ja, es gab mindestens drei tolle Lehrer. Die haben mich richtig blühen lassen. Ich bin früh in eine eigene kleine Wohnung gezogen und habe mit 21 Abitur gemacht und Pädagogik studiert.

Wenn Sie die heutige Jugendhilfe anschauen, was muss besser werden?

Geschlossene Heime darf es nicht geben. Ich weiß, was da an Machtmissbrauch möglich ist. Jugendhilfe sollte auch nicht Gewinn machen dürfen. Man sollte sie in der jetzigen Form abschaffen.

* Name geändert