Tulpe auf 3 Uhr

BLIND IM MUSEUM Einmal im Monat bietet das Staatliche Museum Schwerin sehbehinderten Menschen eine Führung durch die Sammlung an

VON LISA GOLDMANN

Die Gruppe sitzt vor dem Gemälde „Vögel“ von Jean-Baptiste Oudry und rätselt, ob die darauf abgebildeten Vögel zur Seite blicken oder den Betrachter ansehen. Wobei das Wort „Betrachter“ in diesem Fall falsch ist. Denn die Menschen, die hier im Museum Schwerin zusammengekommen sind, betrachten keine Gemälde. Sie sind alle höchstgradig sehbehindert. Kunst erleben wollen sie trotzdem. Das Museum Schwerin bietet ihnen hierzu einmal im Monat bei einer Führung die Gelegenheit. Wie geht das, Gemälde, die für das Auge gemacht sind, zu erleben, ohne sie zu sehen?

Diese Frage stellte sich auch die Museumspädagogin Birgit Baumgart, die die Führungen seit 2006 anbietet. Von Pablo Picasso stammt der Ausspruch: „Man kann ein Gemälde in Worten schreiben, ebenso wie man Sinneseindrücke in einem Gedicht malen kann“. Durch detailliertes Beschreiben versucht Baumgart, ein Bild im Kopf entstehen zu lassen. Hierfür nutzt sie die unter Blinden üblichen Orientierungshilfen wie das Ziffernblatt der Uhr. Baumgart beschreibt so nicht nur die Bilder, sondern auch die Räume, in denen sie hängen. Ein Museumsbesuch ist mehr als die Summe der ausgestellten Bilder: große Säle, andächtige Stille, knarzende Dielen. All das kann man spüren und hören.

Die Kunst, die Birgit Baumgart bei ihren Führungen vorstellt, spricht mehrere Sinne an. Für die Haptik hat sie kleine Schilder und Täfelchen gebastelt, auf denen einzelne Motive zu spüren sind – zum Beispiel das Nashorn „Clara“ von Oudry in Miniaturform aus Leder, die einzelnen Panzerteile sind gut zu spüren, oder ein Kronenkranich aus echten Federn.

Waltraut Günzler ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert und nimmt regelmäßig an den Führungen teil. Sie geben ihr die Möglichkeit, etwas zu erleben, das ihr sonst verschlossen bleiben würde. „Es erfordert schon sehr viel Geduld und Genauigkeit, um einem Blinden ein Bild so zu beschreiben, dass er es sich vorstellen kann“, sagt sie. Doch egal, wie gut die Beschreibungen sind: „Wir werden Kunst nie so erfahren wie Menschen, die sehen können“, sagt Günzler, „die Gesamtwirkung eines Gemäldes kann sich jemand wie ich nicht wirklich vorstellen.“

Was das Angebot für blinde und sehbehinderte Menschen angeht, ist das Staatliche Museum Schwerin Vorreiter. Um nun Menschen auch außerhalb Schwerins zu erreichen und Kunst für alle mit Sehbehinderung zu ermöglichen, hat das Museum jetzt einen einzigartigen Gemäldeführer herausgebracht, der sich an blinde, sehbehinderte und auch sehende Menschen richtet. Entstanden ist der Bildband in Kooperation mit Andere Augen e.V., einem Berliner Verein, der sich für die Inklusion von blinden und sehbehinderten Menschen einsetzt und das Tasthörbuch „Andere Augen“ herausgebracht hat.

„Das Goldene Zeitalter – Über die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts“ zeigt acht Gemälde des Museums Schwerin. Zeigen ist hier auf vielerlei Art gemeint: Die Gemälde sind bunt und groß abgedruckt. Auf dicken Folien sind als Erhebungen die Gemälde gestanzt – mal in dicken, mal in dünnen Linien, mal als geriffelte, mal als glatte Flächen. Zusätzlich zum ganzen Gemälde sind auf extra Folien noch einzelne Elemente eines Bildes vergrößert hervorgehoben: Eine Tulpe aus einem Blumenstillleben, eine typische Windmühle aus einem Landschaftsbild. Die Bildbeschreibungen sind in lateinischer Schrift und Brailleschrift abgedruckt und liegen als Hörversion auf einer CD bei.

Die Bildbeschreibungen waren gar nicht so einfach, erzählt Baumgart. Sollen sie ganz sachlich-deskriptiv sein? „Dann ginge ja die Sinnlichkeit verloren, die Bilder immer auch ausstrahlen“, sagt sie. Doch die Emotionen, die ein Bild hervorruft, sind sehr individuell. Sind die Wellen auf „Bewegte See mit Schiffen“ von Backhuysen wirklich dramatisch, wie der Text sagt? Wie sachlich oder emotional eine Beschreibung sein soll, darüber sind sich auch die Blinden und Sehbehinderten nicht ganz einig, die an der Entstehung des Buches beteiligt waren.

Der Text des Bildbands schafft eine gute Balance, der Bildinhalt wird erzählerisch wiedergegeben, ohne dabei zu sehr zu werten. Geräusche, die beim Betrachter im Kopf entstehen, wie Meeresrauschen und Möwengeschrei, finden sich auf der Audio-CD. Statt kunsttheoretische Details zu erörtern, konzentriert sich der Gemäldeführer auf den historischen Hintergrund der Gemälde, erzählt vom Tulpenhandel und der Schifffahrt im 17. Jahrhundert in Holland.

Birgit Baumgart bringt den Gemäldeführer inzwischen zu ihren Führungen im Museum mit. Meist beschreibt sie neben anderen Bildern ein oder zwei Gemälde aus dem Buch. Die Besucher sitzen auf Klappstühlen vor dem Original „Bewegte See mit Schiffen“, auf dem Schoß den Bildband, und tasten sich schnell mit allen Fingern über die Erhebungen auf der Folie. Gar nicht so einfach, den verschiedenen Linien zu folgen, für ungeübte Taster nicht, aber auch nicht für geübtere. Baumgart muss immer wieder pausieren und helfen. „Meer und Horizont sind schwer auseinanderzuhalten“, sagt ein Besucher. „Fahren die das Segel aus oder ziehen sie es ein?“, fragt ein anderer. Diese Frage kann Birgit Baumgart nicht beantworten. Vieles auf Gemälden lässt sich auch mit den Augen nicht eindeutig erkennen.

■ Infos und Bestellformular: www.museum-fuer-alle.de