Gegen Tabus und Starrheit

FILMREIHE Das jugoslawische Kino brachseit den 1960er Jahren mit den Regelndes orthodoxen sozialistischen Realismus

„Čovek nije tica“ (Man Is Not a Bird): Dušan Makavejevs absurde Dekonstruktion eines Musterarbeiters Foto: Promo

von Fabian Tietke

Beatniks, Obdachlose und Arbeitslose bevölkern die Filme der sogenannten Schwarzen Welle des jugoslawischen Kinos von Anfang an. Seit Beginn der 1960er Jahre realisierten Filmemacher in Jugoslawien Filme, die kaum weiter von der Starrheit des sozialistischen Realismus hätten entfernt sein können. Nicht umsonst gilt die Schwarze Welle schon lange als Geheimtipp, wenn man sich seine Vorurteile über „sozialistisches Kino“ mal tüchtig durchpusten lassen will. Zu sehen sind die Filme jedoch nur selten. Die Kinomacherinnen Annette Lingg und Vedrana Madžar haben nun mit finanzieller Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds für das Kino Arsenal eine Reihe zusammengestellt, die die Filme der Schwarzen Welle in ihrer ganzen Breite vorstellt.

Vojislav Kokan Rakonjacs „Nemirni“ (The Naughty Ones) schwelgt in jungen Beatniks aus der Belgrader Gegenkultur der 1960er Jahre. „Nemirni“ verweist zurück auf eine andere schwarze Welle des sozialistischen Kinos, die „Czarna seria“ des polnischen Dokumentarfilms der 1950er Jahre. In einigen Szenen von Rakonjacs Film möchte man noch heute im Kino am liebsten aufspringen und lostanzen.

Zur Eröffnung der Filmreihe läuft ein Kurzfilmprogramm, deren Kern drei Filme von Želimir Žilnik bilden: „Nezaposleni ljudi“ (Die Arbeitslosen) von 1968, „Crni film“ (Schwarzer Film) von 1971 und „Ustanak u Jasku“ (Aufstand in Jazak) von 1973. Die ersten beiden sind klassische dokumentarische Arbeiten der Schwarzen Welle und zeigen jene Außenseiter, die es offiziell nicht geben durfte. „Aufstand in Jazak“ hingegen widmet sich der Erinnerungspolitik an den Zweiten Weltkrieg.

Der Zweite Weltkrieg steht auch im Zentrum eines weiteren frühen Films der Schwarzen Welle, Aleksandar Petrovićs „Tri“ (Drei) von 1965. In drei Episoden um den Protagonisten Miloš Bojanić setzt sich Petrović mit dem nationalen Gründungsmythos des Partisanenkampfes auseinander. Ebenfalls 1965 realisierte Dušan Makavejev, der international bekannteste Vertreter der Schwarzen Welle, sein Spielfilmdebüt „Čovek nije tica“ (Man Is Not a Bird). Der Film ist die halsbrecherisch-absurde Dekonstruktion eines Musterarbeiters, den es zum Aufbau von Industriemaschinen in die Provinz verschlägt. Sechs Jahre später, 1971, drehte Makavejev mit „W. R. – Misterije organizma“ (W. R. – Mysteries of the Organism) den zu Recht bekanntesten Film der Schwarzen Welle.

Die Filme zeigen Außenseiter, diees offiziell nicht geben durfte

In „W. R.“ verwebt Makavejev dokumentarische Aufnahmen auf den Spuren des Psychoanalytikers und Sexualforschers Wilhelm Reich mit den Annäherungsversuchen einer jungen Jugoslawin an einen verbohrten sowjetischen Eiskunstläufer mit dem sprechenden Namen Wladimir Iljitsch. „W. R.“ wurde in Jugoslawien umgehend verboten. Beim surrealen Tanz durch die Tabus hatte Makavejev zu viel Porzellan erwischt. Nach dem Verbot des Films ging der Regisseur zunächst nach Westdeutschland und schließlich weiter in die USA.

Wie viele Filme der Schwarzen Welle entstand auch „W. R.“ als Koproduktion: Das meiste Geld kam dabei aus Jugoslawien und Westdeutschland, die Aufnahmen in den USA entstanden hingegen mit Unterstützung der Ford Foundation. Der internationale Erfolg und die internationalen Produktionsbedingungen der Schwarzen Serie waren das Ergebnis der Einführung des Systems der Selbstverwaltung auch im Filmsektor sowie einer stärkeren Regionalisierung der Filmförderung. Denn schon in den 1950er Jahren hatte die ­jugoslawische Filmproduktion das Paradigma des sozialistischen Realismus verworfen und sich zunehmend gegenüber einem globalen Filmmarkt geöffnet.

Ihr Ende fand die Schwarze Welle 1971/2 ausgehend von einigen Verboten. Neben der schon erwähnten Absetzung von Makavejevs „W. R.“ traf es Želimir Žilnik bei den Arbeiten an „Sloboda ili strip“ (Freiheit oder Comicstrip). Lazar Stojanović hingegen wurde wegen seines Films „Plastični Isus“ (Der Jesus aus Plastik) zu drei Jahren Haft verurteilt. Um so erfreulicher, dass Bahrudin Cengics absurder Agitproptrip „Ulogo moje porodice u svetskoj revoliciji“ (Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution) zu diesem Zeitpunkt schon fertig war.

Die Reihe „Schwarze Wellen, rote Horizonte. Der Neue Jugoslawische Film“ läuft vom 4. bis 30. September im Kino Arsenal