Die Normalität des Bösen

„Täter“: Harald Welzer untersucht die Sozialpsychologie des Genozids

VON MARTIN ALTMEYER

Gewiss waren unter den Planern, Bürokraten und Exekutoren der Vernichtung, von Hitler selbst bis zu Schergen wie Kaduk oder Boger, sadistische und narzisstisch gestörte Persönlichkeiten. Aber sie waren nicht repräsentativ. In der Gruppe der Täter und Täterinnen entsprach die überwiegende Mehrheit der Norm. Den Anteil psychisch auffälliger Personen unter den aktiv oder passiv an den Vernichtungsaktionen Beteiligten schätzen seriöse Untersuchungen auf etwa fünf bis zehn Prozent, kaum mehr, als in der Bevölkerung üblicherweise zu erwarten war. Die Vorstellung, die Untaten der Nazis seien womöglich auf einen bestimmten Sozialcharakter zurückzuführen – etwa auf die faschismusanfällige „autoritäre Persönlichkeit“, die Adorno und seine Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung mithilfe von Fragebögen und Persönlichkeitsskalen empirisch ermittelt hatten –, hat sich für die Ursachenforschung letzten Endes als wenig ergiebig erwiesen.

Auch in diesem Sinne behielt Hannah Arendt gegen Adorno Recht, als sie von der „Banalität des Bösen“ sprach. Das betrifft selbst die pädagogische Konsequenz, die Adorno aus der faschistischen Erfahrung zu ziehen vorschlug: eine Erziehung zur Selbstreflexion, die das autonome Subjekt vor Augen hatte, das gegen seine gesellschaftliche Indienstnahme Widerstand leisten sollte. Aber wenn eine soziale Pathologie – und darum handelte es sich zweifellos beim nationalsozialistischen Projekt – nicht aus der Psychopathologie von Einzelnen hervorgeht, wie soll man sich individualpsychologisch dagegen immunisieren?

Nach ihrem Paradigmenwechsel, den man als relational turn oder „intersubjektive Wende“ bezeichnen kann, nähert sich die Psychoanalyse solchen Fragen heute anders, als sie das früher getan hat. Verhalten wird nicht einfach durch überdauernde, tief im Innern verborgene seelische Strebungen determiniert. Unsere eigentlichen Handlungsmotive sind nicht bloß sexueller, aggressiver oder narzisstischer Natur. Auch im dynamischen Unbewussten scheint es eine permanente Rückkopplung zwischen der inneren und der äußeren Welt zu geben – eine mentale Austauschbewegung, die bereits mit der frühesten Interaktion zwischen Mutter und Kind einsetzt. Nicht zuletzt durch die Befunde der Säuglingsforschung sieht sich die moderne Psychoanalyse genötigt, ihre klassisch-internalistische, auf der Trieb- und Strukturtheorie basierende Auffassung aufzugeben, die Adorno noch verteidigte. In ihren relationalen oder intersubjektiven Ansätzen spürt sie der Vernetzung von Seele und Umwelt nach und nimmt dabei die Vermittlungen zwischen individueller Psyche und sozialer Realität in den Blick.

Ohne sich auf diese Wende in der zeitgenössischen Psychoanalyse zu beziehen, verfolgt Harald Welzer in seinem neuen Buch „Täter – wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ einen ganz ähnlichen Ansatz. Freilich täuscht der Titel ein wenig, denn es geht nicht um Serienkiller oder Amokläufer, sondern um den politisch motivierten Massenmord, genauer gesagt, um den Genozid, dessen mentale Hintergründe, moralische Rechtfertigungen und performative Praktiken Welzer vor allem am Beispiel des Nationalsozialismus untersucht (auch entsprechenden Ereignissen in Vietnam, Ruanda und Jugoslawien ist jeweils ein Abschnitt gewidmet). Das Modell, das er anbietet, um die sozialpsychologische Dynamik des Genozids zu erklären, enthält drei ineinander verschachtelte Kreise.

Der erste Kreis entsteht durch einen gesellschaftlichen Diskurs, in dessen Verlauf eine Gruppe für minderwertig erklärt und so radikal ausgegrenzt wird, dass sich am Ende das „Tötungsverbot in ein Tötungsgebot“ verwandelt. Der zweite Kreis entsteht durch eine kollektive Deutungsmatrix, die für das individuelle Handeln neue moralische Maßstäbe setzt und zu verändertem sozialem Regelverhalten führt. Erst im dritten Kreis geht es um die Einschätzung der Risiken einer Tat für den Täter, um ihre möglichen Gratifikationen, seelischen Gewinne, unbewussten Ingredienzien usw., also um Psychologie im engeren Sinne. Die Spirale, die schließlich zu Mordbereitschaft und zu mörderischem Handeln selbst führt, beginnt also nicht mit Psychologie oder Psychopathologie, sie endet höchstens mit ihr.

Dabei ist entscheidend, wie die handelnden Personen die Welt wahrnehmen und welche sozialen und normativen Kontexte diese Wahrnehmung prägen. Offenbar genügt eine mentale Koordinatenverschiebung, die im Falle der Nazis rassentheoretischer Art war, um einer Gruppe von Menschen jeden menschlichen Status abzuerkennen (wobei die Lehre von der Höher- und Minderwertigkeit bestimmter Rassen keineswegs eine Erfindung der Nazis war, sondern dem weitgehenden Konsens der damaligen zeitgenössischen Humangenetik entsprach und insofern „wissenschaftlich“ begründet schien). Auf diese Weise ließe sich erklären, was doch dringend erklärungsbedürftig ist: eine sich spätestens in den Jahren nach 1933 völlig normale Menschen in diese wahnhafte Ideologie haben hineinziehen lassen; wie eine Mehrheit ihr Wertesystem so hat ändern können, dass sie sich an einem paranoiden Massenwahn aktiv oder passiv beteiligt hat; wie bis dahin seelisch gesunde Männer (und Frauen) zu gemeinen Mördern werden konnten, die schließlich in ganz Europa ihre Untaten vollbrachten.

Welzers Hauptinteresse gilt der Mentalitätsgeschichte des deutschen Faschismus. Und seine These ist ebenso schlicht wie überzeugend: Erst ein rapider Wandel im öffentlichen und privaten Bewusstsein erlaubte es, die Juden zuerst zu diskriminieren, dann auszugrenzen und schließlich zu eliminieren – das Vernichtungsdenken ging dem Vernichtungshandeln voraus. Schrittweise erfolgte innerhalb weniger Jahre eine kollektive moralische Enthemmung, die eigentlich keine Enthemmung war, sondern der Aufbau einer neuen, einer arischen, einer Herrenmenschenmoral, die volksgemeinschaftsbildend wirkte.

Es gehörte zur vaterländischen Pflicht, sich eventueller Skrupel zu entledigen. Denn die Juden wurden nicht aus unmoralischen, sondern aus moralischen Gründen umgebracht; man musste sie aus Gründen einer höheren Moral umbringen, weil sie sich gegen Deutschland verschworen hatten, weil sie das internationale Finanzkapital repräsentierten; weil sie das Unreine, das Heterogene, das Ambivalente verkörperten; weil sie den kosmopolitischen Geist der Zersetzung repräsentierten und einiges mehr.

Mithilfe von Welzers Ansatz ließe sich auch das Entstehen jenes „eliminatorischen Antisemitismus“ besser verstehen, den Daniel Goldhagen diagnostiziert, aber volkspsychologisch mythologisiert, statt ihn aufzuklären: Der Massenmord an den Juden beginnt mit einem mentalen Koordinatenwandel, der schließlich dazu führt, dass einzelne Menschen Dinge tun, die sie unter anderen Umständen niemals tun würden; den Anfang der mordbereiten Kollektivmentalität bildet die radikale Unterscheidung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. War es in Nazi-Deutschland die Rassentheorie, die letzten Endes den Massenmord rechtfertigte, so lieferten in Ruanda oder in Jugoslawien ethnische Distinktionen die Rechtfertigung zu den „Säuberungsaktionen“, denen Familien zum Opfer fielen, mit denen die Täter jahrzehntelang friedlich in Nachbarschaft gelebt hatten.

Auch hier gelingen Welzer Einsichten in die Dynamik moderner Genozide, die einen schaudern lassen. Denkt man seine These weiter, sieht es nicht gut aus für eine zusammenwachsende Welt, die zunehmend von Identitätskämpfen – also letzten Endes von der Frage nach Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung – bestimmt wird.

Harald Welzer: „Täter“. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 336 Seiten, 19,90 Euro