„Unsere Körper würden zermalmt“

TANZ Wo ein Körper ist, ist Physik im Spiel. Der Choreograf Gilles Jobin, ab heute Gast des Festivals Tanz im August, hat ein Stipendium im Kernforschungszentrum Cern für seinen Recherchen über Bewegung genutzt

Interview Astrid Kaminski

taz: Herr Jobin, haben Sie einen Lieblingsphysiker?

Gilles Jobin: Einer meiner Lieblinge – leider ist er schon gestorben – ist Richard Fynman. Von ihm stammen die Diagramme, mit denen man die Interaktionen von Teilchen beschreiben kann, ohne den Umweg über Mathematik. Das sind sehr schöne Zeichnungen. Er war generell ein interessanter, psychedelischer Typ. Spielte Bongos und ließ sich von einem befreundeten Künstler Zeichenunterricht geben. Im Gegenzug brachte er ihm Teilchenphysik bei. Für die Grafiken meiner Choreografie „Quantum” benutzen wir Diagramme von ihm.

Sie waren als Choreograf Stipendiat im Künstlerprogramm des schweizerischen Atomforschungsinstitut Cern. Mussten Sie dafür einen Test in Teilchenphysik machen?

Dann wäre ich sicher nicht aufgenommen worden. Man bewirbt sich mit einem Projekt, und das geht durch eine Jury. Meine Researchfrage bezog sich auf einen Bewegungsgenerator. Schon für mein Stück „Spider Galaxies” hatte ich mit der Frage experimentiert, wie Bewegung generiert wird. Beispielsweise durch Computeranimation. Das klappte nicht, weil sich diese Methoden eigentlich am Model einer Maschine orientieren. Tänzer*innen sind aber weit intelligenter und komplexer als Maschinen. Das brachte mich zu elektronischer Musik. Um auf diesem Gebiet zum Ergebnis zu kommen, gibt man nicht genau ein, was man haben will, sondern kreiert Bedingungen. Wie man durch Bedingungen konkret Choreografie schreiben kann, das war meine Frage für den Aufenthalt am Cern.

Wie war der Alltag auf dem Campus des Cern?

90 Prozent Männer, sehr hohes Level, kein Geplänkel. Ich habe sogar ein paar Physiker*innen getroffen, die Tänzer*innen waren. Das ist nicht so ungewöhnlich, weil die meisten im Cern aus den USA kommen, und es dort an den Hochschulen die bei uns gebräuchliche Trennung in Wissenschaften und Künste viel weniger gibt.

Wie haben Sie sich als Künstler in dieser Gesellschaft eingebracht?

Gilles Jobin

Foto: Gregory Bartadon

Die Quantenphysik scheint dem schweizerischen Choreografen Gilles Jobin in die Wiege gelegt worden zu sein. Albert Einstein soll seinem Onkel Walter das Fahrradfahren beigebracht haben, er selbst war mehrere Monate Künstler in Residenz beim Kernforschungszentrum Cern. Aus seinen dortigen Eindrücken entstand die abstrakte Choreografie „Quantum“, mit der Jobin nach einer Welttournee nun beim Festival Tanz im August heute und morgen um 20 Uhr im HAU 1 zu Gast ist.

Ich las erst einmal viele Bücher. Mein Level in Physik war wirklich bescheiden! Außerdem bereitete ich drei Interventionen vor, die Teil meiner Residence waren. Das Cern ist in verschiedene Labs mit jeweils eigener Verwaltungsstruktur unterteilt. Eines davon ist eine durchgängig geöffnete Bibliothek. In Anlehnung an Wim Wenders Engel, die zum Ausruhen in Lesesäle gehen, schuf ich Wesen namens Strangels, eine Mischung aus strangers und angels. Wir versuchten, so diskret wie Engel zu sein. Eine andere Intervention fand im Calcul Centre statt, einer riesigen Server-Farm, die zum Daten sammeln dient. Es gibt im Cern 600.000.000 Kollisionen per Sekunde, und jede Kollision generiert eine enorme Masse an Daten. Hier entstand übrigens das Internet, wir könnten uns also ohne das Calcul Centre jetzt wahrscheinlich gar nicht unterhalten. Die letzte Station war die „Anti-Matter Hall”, wo leere Materie produziert wird.

Welche lesbaren beziehungsweise populärwissenschaftlichen Bücher über Teilchenphysik würden Sie zum Einstieg empfehlen? Stephen Hawking?

Frank Closes „The Cosmic Onion”, oder, was ich sehr gern mag: Lawrence M. Krauss’ „The Physics of Star Trek”, eine physikalische Analyse von „Raumschiff Enterprise”. Und ja, natürlich auch Hawkings Bücher.

Haben Sie den Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ über ihn gesehen?

Nein. Ich bin enttäuscht von Haw­king. Ich hörte, dass er solche sinnlosen Dinge empfiehlt, wie nach anderen bewohnbaren Planeten zu suchen. Das aber würde einfach nur einen unmöglichen Aufwand an Energie kosten. Zurzeit ist diese Perspektive ja angesagt, was vor allem daran liegt, dass Künstler- wie Wissenschaftler*innen ihre Träume für Realität halten, und unseren kleinen Planeten im Vor­ort der Galaxie quasi ad acta legen. Krauss beschreibt zum Beispiel, wie allein die Beschleunigung auf Lichtgeschwindigkeit, wenn sie denn möglich wäre, unsere Körper sofort zermalmen würde. Eine der wichtigsten Dinge, die ich lernte, ist die Trennung zwischen Materie und Organischem sowie zwischen Theorie und Realität.

„Wir versuchten, so diskret wie Engel zu sein“

Gilles Jobin

Welche Informationen aus dem subatomaren Bereich haben Sie als Choreograf geprägt?

Sehr viele. Zum Beispiel eine Beschäftigung mit den verschiedenen Arten von Symmetrie: reversive Symmetrie, Achsensymmetrie, Spiegelsymetrie, Videosymmetrie und so weiter. Oder eine Neubewertung der Schwerkraft. Schwerkraft wird oft als Feind des Tanzes gesehen, aber sie macht es als eine der vier elementaren Kräfte überhaupt möglich, dass wir uns als Teilchenmasse einigermaßen elegant über die Erde bewegen können.

Wenn unser Körper eine Ansammlung von Sternenstaub ist, zusammengehalten durch die Dynamik von Teilchen, ist er dann selbst ein Tanz?

Sicher! Würde man zum Beispiel alle Leere aus uns herausnehmen, wären wir so groß wie ein Reiskorn, allerdings sehr, sehr viel schwerer.

Das Gespräch wurde auf ­Englisch per Skype geführt