Seht, das Glühwürmchen strahlt

Newcomer Das gefeierte spanische Pop-Architektenduo José Selgas und Lucía Cano beweist im Londoner „Serpentine Pavilion“ Mut zur Plastikwelt, der erstaunlich angenehm rüberkommt

Im Innern des Glühwürmchens Foto: Klaus Englert

von Klaus Englert

Als Lucía Cano und José Selgas Ende Juni ihren temporären Pavillon in Londons Kensington Gardens einer internationalen Medienschar vorstellten, machten sie daraus eine Life­style Show. Das spanische Architektenpaar postierte sich, geradezu demonstrativ dem Londoner Regenwetter trotzend, vor den gerade fertiggestellten Kokon-Pavillon der Serpentine Gallery: Sie im leuchtend weißen Kostüm, dazu ein gelbes Halsband, orange Sandalen und als unübersehbares Accessoire eine ebenso orange transparente Plastiktasche. Er, Büropartner und Ehemann, der sie um Kopfeslänge überragt, wählte – reichlich gewagt – zu grüner Hose ein blaues Jackett, dazu knöchelhohe rotblaue Turnschuhe. Unter dem wolkenverhangenen Londoner Himmel und vor dem irisieren­den Farbenrausch des diesjährigen Serpentine Pavilion war das ein klares Bekenntnis zur sinnenfrohen Pop-Architektur. Man hätte denken können, die Madrider Architekten hätten plötzlich ein Revival der poppigen Roaring Sixties eingeläutet, die seinerzeit London zur Hauptstadt des Modetrends machten.

Minimalistisches Manifest

Das Klicken der Kameras verstummte, als der Regen einsetzte. Aber die Botschaft war angekommen. Die Direktoren der Serpentine Gallery wünschten sich ausdrücklich für dieses Jahr, anlässlich des 15. Jahrestags des Serpentine Pavilions in Kensington Gardens, einen „Party Pavilion“. Dass die beiden Spanier dafür die richtigen Kandidaten waren, dürfte schnell klar gewesen sein. Ihr Entwurf sollte sich deutlich von der bisherigen Pavillonserie unterscheiden, die vor 15 Jahren von Zaha Hadid begründet wurde. Gefragt war nun mediterrane Ausgelassenheit. Deswegen fiel die Wahl genau richtig auf die beiden spanischen Newcomer, die vor das klassizistische Galeriegebäude eine architektonische Larve setzten, die des Nachts wie ein phosphoreszierendes Glühwürmchen strahlt.

Bekannt wurde das spanische Duo, als vor sechs Jahren Fotos in der Architekturszene zirkulierten, die das Büro Selgas Cano zeigten: Eine lang gestreckte, teilweise verglaste Betonröhre, halb im Erdreich vergraben und verdeckt durch dichtes Blätterdach. Auf Anhieb verstand man damals das minimalistische Manifest: Acht Mitarbeiter arbeiteten Tisch an Tisch in dem Container, in dem es rechts und links lediglich Platz für ein Bücherregal und einen schmalen Gang gibt. Durch die gläserne und geschwungene Nordfassade strahlt indirektes Tageslicht, das unter den Laubbäumen für eine behagliche Arbeits­atmosphäre sorgen soll.

Die auf einer Architekturplattform publizierten Fotos wurden schnell zum Hit unter Architekten. Es faszinierte, wie sich aus beengten Räumlichkeiten sinnenfrohe Architektur gestalten lässt – mit knallgelbem Holzfußboden, pistaziengrünen Decken und Wänden sowie orangefarbenen Türen mit abgerundeten Ecken. Die Fotos des farbenfrohen Gehäuses mussten irgendwann auch die Leiter der Londoner Serpentine Gallery beeindruckt haben. Dabei galten Selgas Cano allenfalls als Geheimtipp. Zur Offenbarung wurde, inmitten der Krise, die Konzerthalle am Hafen von Cartagena.

Selgas Cano gelang eine beschwingte Leichtigkeit der Konstruktion, mit Plexiglastreppenhaus, Sitzkapseln, illuminierten Zickzackbänken und spielerisch abgehängter Promenierrampe. Das offene Raumgefüge, die wie Farbströme das Gebäude durchziehenden Linien, die Fensterfront aus Polycarbonatpanelen, die im Innern gedämpftes Tageslicht verströmt – all das ist erstaunlich wenig in der spanischen Architektur verankert, vermehrt aber in der japanischen Baukunst von Sanaa und der mexikanischen von Luis Barragán.

Unbekannt war bislang in Spanien der Mut zur Plastikwelt, die überraschend freundlich wirkt. Nach Cartagena kam Mérida, wo die beiden Madrider einen farbenfrohen Playground für Graffiti-Enthusiasten, Skater, Biker und Fassadenkletterer errichteten. Und nun also London, Kensington Gardens, Serpentine Pavilion. Alles ist wieder da, was einige Jahre zuvor die ­dionysische Architektur in Cartagena und Mérida ausmachte: der selbstverständliche Einsatz von Kunststoffen, vor allem aber das von Selgas Cano über den grünen Klee gelobte ETFE (Ethylen-Tetrafluorethylen), aus dem sie die extrem resistente und lichtdurchlässige Außenhaut der Riesenraupe herstellten. Gespannt wurde der in verschiedensten Farben schwelgende Kunststoff über ein Stahlgerippe – und fertig war der Jubiläumspavillon.

„Der weiße ­Beton­boden ist wie eine Leinwand, auf der die Farben tanzen“

Architekt José Selgas
Eine Entdeckungsreise

Natürlich dachten Selgas Cano nicht an einen handelsüblichen Pavillon mit Haupteingang und zentralem Versammlungsraum. „Wir wollen die Besucher auf Entdeckungsreise schicken“, meinte José Selgas über die Wunderkammer im Hydepark. Für die Architekten war der Pavillon ein work-in-progress, ein Experiment mit Materialien, Licht, Schatten, Transparenz, Farbe und Perspektiven. Und für den Gast ein Ort, den er stets anders wahrnimmt, je nachdem, welchen der vier Eingänge er wählt. Ein Zugang, an dem seitlich bunte ETFE-Streifen herunterhängen, schlängelt sich tunnelartig an der Außenhaut des ­Pavillons vorbei. Schließlich entdeckt man eine Öffnung, die an das Riesenmaul eines Fabelwesens erinnert. „Aber das Wichtigste“, fügt ­Selgas hinzu, „ist der weiße Betonboden. Er ist wie eine ­Leinwand, auf der die Farben anfangen zu tanzen. Zumindest dann, wenn die Sonne hineinscheint.“

Dieses Glück hatten die Journalisten während der Pressekonferenz in Kensingtons Gardens nicht. Gutes Schuhwerk war empfehlenswert, denn zwischen den viel gelobten Plastikbahnen tropfte das Wasser auf den Betonboden und bildete kleine Rinnsale. Und auf einmal wurde es ganz eng im Bauch der Riesenraupe, als sich alle vor dem Kaffeeausschank drängten. Eigentlich würde sich der Serpentine Pavilion auch gut in einem kalifornischen Holiday Resort machen, dürfte so mancher gedacht haben. Denn dorthin soll der Pavillon nach seinem Abbau transportiert werden. Aber das waren ketzerische Gedanken, die bald verflogen. Denn wenig später hielt auch im Hydepark der Supersommer Einzug. Und der Serpentine ­Pavilion hat sich als wichtigstes Architekturevent des Sommers erwiesen.

Serpentine Pavilion, Kensington Gardens, London. Noch bis 18. Oktober