Giftwolke bedroht 15 Millionen

China Bei den Explosionen in der ostchinesischen Hafenmetropole Tianjin haben die Einwohner Angst vor giftigen Chemikalien. Die Zahl der Todesopfer steigt dramatisch

Zumindest der junge Feuerwehrmann ist geschützt vor den vielen giftigen Gasen Foto: Ng Han Guan/ap

Von Felix Lee

BERLIN taz | Tag vier nach der schweren Explosionskatastrophe von Tianjin: In der Innenstadt der 15-Millionen-Metropole sind auf den Straßen kaum Menschen zu sehen. Und wenn, dann haben sie Atemmasken auf oder halten sich die Hände vor den Mund.

Seit Freitag kursiert das Gerücht, dass bei den verheerenden Explosionen auch gefährliches Natriumzyanid ausgetreten sei. Diese Chemikalie bildet hochgiftige Blausäure. Wer nur ein bisschen davon einatmet, droht wegen Atemlähmung zu ersticken. Rund 700 Tonnen dieses zudem leicht entzündbaren Pulvers sollen sich zum Zeitpunkt der Explosionen auf dem Gelände befunden haben, hatten die Behörden noch am Freitag über die staatlich kontrollierten Medien mitgeteilt und in einem Umkreis von drei Kilometern sämtliche Anwohner aufgefordert, ihre Wohnungen zu verlassen.

Die meisten Meldungen dazu im Internet sind seit Samstag jedoch gelöscht. „Nun weiß niemand genau, welchen Gefahren wir wirklich ausgesetzt sind“, beklagt sich ein Blogger aus Tianjin über den Dienst Weixin.

Die offizielle Todeszahl ist am Sonntag auf 112 nach oben geschnellt. Es gibt über 700 Verletzte. Noch immer werden Hunderte Menschen vermisst, viele von ihnen sind Feuerwehrmänner und wohl illegal beschäftigte Hafenarbeiter. Die Behörden hatten am Freitag zunächst den Tod von rund 20 Feuerwehrleuten bestätigt.

„Ich will nur wissen, was mit meinem Sohn geschehen ist“

Verzweifelte Mutter

Bei einem öffentlichen Auftritt von Behördenvertretern in einem Hotel von Tianjin kam es am Samstag zu dramatischen Szenen. Angehörige der vermissten Feuerwehrkräfte stürmten die Pressekonferenz und beklagten Vertuschungsversuche. „Ich will doch bloß wissen, was mit meinem Sohn geschehen ist“, rief die sichtlich verzweifelte Mutter eines vermissten Feuerwehrmannes.

Das chinesische Staatsfernsehen zeigte am Sonntag Luftaufnahmen von dem Unglücksort. Die Bilder machen das gesamte Ausmaß der Katastrophe deutlich: Die wahrscheinlich zweite Detonation mit einer Sprengkraft von schätzungsweise 21 Tonnen TNT hat einen riesigen Krater in den Boden gerissen. Zudem haben die Explosionen Hunderte von Schiffahrtscontainern durch die Luft gewirbelt. Sie liegen nun zerbeult auf dem Hafengelände.

Die Bergungs- und Löscharbeiten stocken. Angesichts der hohen Zahl von Opfern unter den Feuerwehrleuten hat die Stadtverwaltung von Tianjin ihre Brandbekämpfer abgezogen. Nun sind über 200 auf Chemikalien spezialisierte Einsatzkräfte der chinesischen Volksbefreiungsarmee auf dem Gelände im Einsatz. Ausgerüstet mit schwerer Schutzkleidung, fahnden sie nach weiter umherliegenden giftigen Chemikalien-