Frust Aufschwung für alle – das gilt als Erfolg der Ära Lula. Jetzt steckt Brasilien in der Krise, die Menschen demonstrieren gegen Präsidentin Dilma Rousseff. War die „neue Mittelschicht“ von Anfang an ein Mythos?
: Kredit verspielt

Der Flachbildschirm ist das Symbol des Aufschwungs. Wer Ratenzahlung wählt, zahlt wegen der Zinsen schon mal das Doppelte. Und das tun viele Foto: Francesco Zizola/Noor/laif

Aus São Paulo Sebastian Erb (Text und Fotos)

Was für ein cooler Typ. Eine Goldkette über dem T-Shirt und eine Basecap auf dem Kopf, steht er vor zwei dicken Motorrädern. Er trägt die tollsten Klamotten, die Frauen schauen sich nach ihm um. Und kaum hat er beim Billard die Kugel versenkt, landet er mit einem hübschen Mädchen im Bett. Was für ein Leben!

MC França nennt er sich, „Funk Ostentação“ ist sein Musikstil, der Funk der Prahlerei. Es ist die Begleitmusik zu dem wohl wichtigsten sozialen Wandel in Brasilien, es ist der Soundtrack der „neuen Mittelschicht“. Der Traum von einem Leben in Saus und Braus.

MC França heißt eigentlich Luan de Melo, sein Durchbruch als Sänger lässt noch auf sich warten, und in seinem bürgerlichen Leben ist alles ein biss­chen weniger bling-bling als in seinem neuen Videoclip. Aber dennoch kann Luan feiern, dass es ihm gutgeht. Er gehört einer Generation an, die nur Aufschwung erlebt hat. Bis jetzt.

Itaim Paulista liegt weit im Osten von São Paulo. Es ist eines dieser Viertel, in das kaum jemand kommt, der hier nicht wohnt. Die einfachen Häuser sind ineinander verschachtelt gebaut, ohne großen Plan. Luan, 20 Jahre alt, ist schmächtig, im Mund glitzert eine Zahnspange, am Handgelenk eine fette goldene Uhr. Trifft man ihn auf der Straße, kommt er erstaunlich zurückhaltend daher.

Sein Flachdachhäuschen liegt ein Stück den Hügel hoch, an einem ruhigen Sträßchen, es ist aus Backsteinen gebaut, der gelbe Putz blättert ab. Unten wohnt seine Tante mit Familie, oben er, seine Mutter und seine Freundin Lavinia, vor einem Monat hat sie einen Sohn geboren.

Drei kleine Zimmer, Waschmaschine, Gefrierschrank, Mikrowelle, Smartphones, zwei Fernseher. Der neue im Wohnzimmer ist gerade ein paar Wochen alt, 42 Zoll Bildschirmdiagonale, zahlbar in fünf Monatsraten. So lebt sie, die „neue Mittelschicht“. Sie kann sich etwas leisten.

Aber jetzt ist alles teurer geworden. Luan zählt auf: Eine Fahrt mit dem Bus kostete 2,60 Reais, jetzt sind es 3,50. Der Internetzugang: vor zwei Jahren noch 30 Reais monatlich, heute 60. Ein Hemd: früher 100 Reais, jetzt 200 bis 300. An der Kasse im Supermarkt zahlte er früher 100 Reais, heute ist er für den Einkauf 300 oder 400 los.

Das zumindest ist die gefühlte Inflation. Auch die offi­ziel­le erreicht Rekordwerte, mehr als 9 Prozent werden für dieses Jahr prognostiziert.

„Wir haben Gott sei Dank ein gutes Einkommen“, sagt Luan. Rund 2.500 Reais haben sie zusammen im Monat zur Verfügung, das sind knapp 700 Euro. Seine Mutter arbeitet als Haushälterin in der Zona Sul, an die drei Stunden ist sie bis dorthin unterwegs, mit Bus, S-Bahn, Metro, wieder Bus. So lange Luan von seinen Auftritten als Sänger nicht leben kann, jobbt er hier und da, gerade im Kultur­zen­trum in seinem Viertel.

Aber was ist, wenn sie ihre Arbeit verlieren sollten?

Viele stellen sich in Brasilien gerade diese Frage. Das Land ist in der Krise. Die Wirtschaft stagniert, die Inflation steigt und auch die Arbeitslosigkeit. Nur noch 8 Prozent der Brasilianer sind zufrieden mit Präsidentin Dilma Rousseff, die erst im vorigen Jahr wiedergewählt wurde. Für diesen Sonntag ruft nun ein Bündnis zu Demos im ganzen Land auf. Gegen Dilma, gegen die Regierungspartei PT. Den Slogan „VemPraRua“ – Komm auf die Straße – haben sie sich von den Massenprotesten vor der Fußball-WM bewahrt. Die Organisatoren hoffen, dass die Beteiligung noch größer sein wird als im März. Da hatten sich Hunderttausende die Wut über die Korruption im Land aus der Seele geschrien.

In diesen Tagen richtet sich auch der Blick von hier wieder nach Brasilien. In genau einem Jahr finden in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele statt. Kommende Woche fliegt die Bundeskanzlerin nach Brasília und nimmt gleich mehrere Minister mit zu den ersten deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen. Auf der Agenda stehen Handel, Technologie, Bildung. Aber Dilma Rousseff kann nicht nur deutsche Investitionen gebrauchen, sondern auch den ein oder anderen Tipp von Angela Merkel, wie in aller Welt man so beliebt sein kann.

In Brasilien sind jene besonders unzufrieden, die aufgestiegen sind. Wer nachspüren will, wie es diesen Menschen der „neuen Mittelschicht“ geht, muss an den Stadtrand fahren – zum Beispiel in São Paulo, der größten Stadt Brasiliens – zu Leuten wie Luan de Melo. Man muss mit denen sprechen, die sie dabei beobachtet haben und teils schon früh Probleme sahen. Und zu jenen, die damit viel Geld verdienen, die Ausstatter der Aufsteiger.

Selbst Straßenhändler akzeptieren Kartenzahlung

Renato Meirelles kennt die „neue Mittelschicht“ so gut wie kaum jemand sonst, das behauptet er selbst, aber es stimmt wohl auch. Er nennt sich zuvorderst einen neugierigen Menschen. Seine Neugier organisiert er von seinem Büro aus, es liegt unweit der Avenida Paulista, dem geschäftlichen Herzen der Stadt. Renato, Chef des Marktforschungsinstituts Data Popular, enges schwarzes Hemd und Dreitagebart, erzählt von einer Erfolgsgeschichte, die vor gut einem Jahrzehnt begann.

Der Schuldenberater

„Es ist eine Lüge, dass die Mittelschicht vergrößert wurde. Es war nur der Zugang zu Krediten“

MARCELO SEGREDO

2003 tritt Lula seine Präsidentschaft an, der Gewerkschaftsführer. Die Armut in Brasilien wird drastisch reduziert, unter anderem durch das staatliche Hilfsprogramm „Bolsa Familía“. Es entstehen neue feste Jobs, mit sozialer Absicherung und 13. Monatsgehalt. Die Leute können mehr Geld ausgeben, ihre Wohnung besser ausstatten und verreisen. „Wir erlebten eine Demokratisierung des Konsums“, sagt Renato.

In Brasilien werden die Einkommensklassen mit A bis E bezeichnet, A sind die reichsten. Die meisten Menschen, 56 Prozent, sind heute Teil der „Classe C“, der Mittelschicht. Der Wandel dahin lässt sich am besten bildlich beschreiben, so wie es Renato Meirelles in seiner Powerpointpräsentation macht: Aus der Einkommenspyramide wurde eine Raute mit einem dicken Mittelbau.

Data Popular hat zwanzig Angestellte, das Institut arbeitet vor allem für große Konzerne. Es hat sich von Anfang an auf die „neue Mittelschicht“ spezialisiert. Wie tickt sie? Was will sie? Was wird sie kaufen? Ein riesiger Wachstumsmarkt.

Was Renato bei seinen Besuchen in der Peripherie gemerkt hat: Die Leute haben kein Problem damit, Kredite aufzunehmen. Sie wollen nicht zwei Jahre auf eine Waschmaschine warten. Sie wollen ab sofort nicht länger von Hand waschen und bezahlen deshalb gern in 24 Monatsraten. „Es ist ihnen egal, dass die Zinsen sehr hoch sind“, sagt Renato. Und da fängt das Problem an.

Der Aufstieg ist auf Pump gebaut. Um das zu sehen, braucht man nur von der S-Bahn-Station Itaim Paulisa die breite Einkaufsstraße entlangzulaufen, in Richtung Luans Haus.

„Wir geben uns total für Sie hin“, so lautet der Slogan von Casas Bahia. In dem Möbel- und Elektrogeschäft kann man mit 15 unterschiedlichen Kredit- und Girokarten bezahlen. „Realisiere deinen Traum“, so lautet die Werbung für einen Immobilienkredit. Und so geht es weiter, Laden für Laden. Man müsste nur einen Fuß in das Schuhgeschäft setzen, und nach fünf Minuten hätte man eine neue Kreditkarte in der Hand, alles ganz schnell, ganz einfach. In Brasilien kann man nahezu überall mit Karte bezahlen, auch bei Straßenhändlern. Sogar Drogen bekommt man bargeldlos.

Die Folgen kann man sich leicht vorstellen. Rund zwei Drittel der Brasilianer sind heute verschuldet. Die Zahl jener, die die Kredite verspätet oder gar nicht mehr zurückzahlen können, steigt. Und an der Verschuldung verdienen alle, sagt Marcelo Segredo, alle, außer die Konsumenten.

Marcelo ist so etwas wie der brasilianische Peter Zwegat, ein Schuldenberater, Direktor des Verbraucherschutzorganisation ABC. Ein Mann mit Halbglatze, seriösem Anzug, roter Krawatte, seit zwanzig Jahren kämpft er gegen die Ausbeutung durch Banken, wie er es ausdrückt.

Sein Büro liegt gleich neben der U-Bahnstation Santana nördlich des Zentrums, vorbei an einem Friseursalon, der für Haarverlängerung wirbt, hinauf in den 6. Stock. Hierher kommen Menschen, die ihren Schuldenberg nicht mehr überblicken. Wer will, kann sich auch per Skype melden. Oder die Videos anschauen, die Marcelo vor einer grünen Wand aufnimmt und mit hektischer Musik unterlegt auf YouTube stellt.

Im Schnitt hat jeder Brasi­lia­ner drei Kreditkarten, damit fängt es. Wer dann diese Schulden mit Schecks begleicht und dann weitere Schulden aufnimmt, um die der Kreditkarten und der Schecks zu begleichen, der kommt da kaum noch raus. Zumal, wenn dann immer gleich das Gehalt gepfändet wird.

Marcelo kann sich regelrecht darüber aufregen, dass die Banken oft die Zinsen nicht richtig berechnen. Überhaupt diese Zinsen, manche Bank verlangt so hohe Monatszinsen, dass sie sich mit Zinseszins auf 1.000 Prozent im Jahr summieren. Für Marcelo ist das eine „finanzielle Versklavung“.

Seit Anfang 2014, sagt er, verdienten die Unternehmen weniger, aber die Banken mehr. Im ersten Trimester 2015 haben sie ihre Erlöse im Vergleich zum Vorjahr um 42 Prozent gesteigert.

Über den Dächern der Peripherie. MC Franca klagt, wie teuer alles geworden ist

Den offiziellen Statistiken glaubt Marcelo nicht. „Es ist eine Lüge, dass die Mittelschicht vergrößert wurde“, sagt er. Die Brasilianer verdienten nicht mehr. „Was wirklich passiert ist: Die Regierung hat mit den Banken vereinbart, dass der Zugang zu Krediten vergrößert wurde.“ Die „neue Mittelschicht“? Nicht mehr als ein Marketingsprech der Regierung.

Ist die „neue Mittelschicht“ wirklich bloß ein Mythos? Mit dieser Einschätzung ist Marcelo nicht allein. Kritik kommt auch von links, weil man nicht nur ökonomische Faktoren anlegen dürfe, sondern auch so­zia­le. Der Soziologe Marcio Pochmann etwa führt in seinem Buch „Der Mythos der großen Mittelschicht“ aus, dass es sich bei dem vermeintlichen Aufstieg lediglich um Veränderungen in der Arbeiterklasse handele. Die sozialen Schichten seien also gar nicht so mobil.

Sônia Santana Leardini wurde das Einkaufen auf Pump fast zum Verhängnis. Sie wohnt in Jun­diaí, einer 400.000-Einwohner-Stadt im Großraum São Paulo. Wer die Stunde mit dem Bus dorthin fährt, kommt an Alphaville vorbei, der bekanntesten Gated Community, wo sich die Reichen hinter einer dicken Mauer verschanzen. Sônias Tür geht direkt auf die Straße. Sie bittet ins Wohnzimmer. Wieder ein großer Flachbildfernseher.

51 Jahre ist Sônia alt, lange schwarze Haare, ovales Gesicht. Ihr Vater war Wachmann, die Mutter Hausfrau, vierzehn Kinder. Sie kann sich vieles leisten, von dem ihre Eltern nur träumen konnten, inzwischen sogar ein eigenes Haus. Aber beinahe hätte sie alles verloren. Sie beschreibt das wie eine Telenovela mit ihr als Hauptperson.

Sieben Kreditkarten besaß sie am Ende, alle Konten waren überzogen. Sie musste sich Geld leihen, vor allem für Zinsen und Zinseszinsen. Mehr als 22.000 Reais Schulden waren es, wobei, das ist ihr wichtig: Sie hatte nur für 5.700 Reias eingekauft. Die Gläubiger schickten dauernd Briefe, riefen an, auch bei den Nachbarn, bauten Druck auf.

Sie schaffte es schließlich, sich mit Hilfe eines Freunds von der Schuldenlast zu befreien. „Es war ein schmerzhafter Prozess, aber ich habe daraus gelernt“, sagt sie.

Sônia arbeitet für einen Festsalon, der für Hochzeiten gebucht wird, und wird pro Tag bezahlt. Momentan will kaum jemand teuer feiern, das ist ein Problem. Ihr Mann, ihr Sohn und sie kommen trotzdem auf rund 3.500 Reais Haushaltsmonatseinkommen. Noch.

Sônia sieht die Schuld auch in der Politik, irgendwie. „Ich habe immer PT gewählt“, sagt sie. „Nie mehr. Sie haben uns betrogen.“ Deshalb geht sie auch am Sonntag wieder auf die Straße. Gegen Dilma, gegen die Regierung.

Würde Sônia auf Flávia Altheman treffen, würde das wahrscheinlich nicht gut enden. Denn diese Frau arbeitet täglich daran, dass die Brasilianer mehr Geld ausgeben.

São Caetano do Sul, eine knappe Stunde vom Zentrum São Paulos nach Südosten. Neben dem Bahnhof steht ein großer Gebäudekomplex, inzwischen schon etwas in die Jahre gekommen: Die erste Filiale von Casas Bahia, über einem der Eingänge Luftballons in den Firmenfarben, blau, rot, weiß. Hier befindet sich auch bis heute die Konzernzentrale.

Es ist Freitagabend, während andere schon im Wochenende sind, findet Flávia Altheman, die Marketingdirektorin eine halbe Stunde Zeit. Casas Bahia ist eine der wertvollsten Marken des Landes, 2014 landete sie auf Platz 2 in Brasilien und Platz 6 in ganz Südamerika. Die Läden sind eine Mischung aus Ikea, Saturn und Bauhaus. Möbel gibt es hier, Waschmaschinen und vor allem Flachbildfernseher, niemand im Land verkauft mehr Flachbildfernseher.

Lage: Für 2015 wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung in Brasilien um rund 2 Prozent erwartet. Die Zentralbank hat den Leitzins auf 14,25 Prozent angehoben – um Staatsanleihen attraktiver zu machen und so den Real zu stärken, der fast täglich an Wert verliert. Besonders die gesunkenen Rohstoffpreise machen dem Land zu schaffen.

Ramsch: In dieser Woche stufte die US-Ratingagentur Moody‘s die Kreditwürdigkeit Brasiliens auf „Baa3“ herunter. Die nächste Stufe wäre eine ausdrückliche Warnung vor hohen Ausfallrisiken. Investitionen dürften weiter zurückgehen.

Nachbarn: Die Boomzeiten sind in vielen Ländern Lateinamerika vorbei. In Mexiko etwa wächst die Wirtschaft längst nicht so stark wie prognostiziert. In Argentinien und vor allem in Venezuela wird das BIP in diesem Jahr schrumpfen.

Um Präsidentin Rousseff wird es einsam

Der Firmengründer, Samuel Klein, ein Einwanderer aus Polen, hatte seine Karriere als fahrender Händler begonnen und 1957 sein erstes Geschäft eröffnet. Heute sind es mehr als 700 Filialen im ganzen Land. Klein erkannte wohl als Erster, welch riesiges Potenzial in der Kreditvergabe liegt. Als Kunden hatte er immer die Mittelschicht im Blick. Als dann plötzlich von der „neuen Mittelschicht“ gesprochen wurde, war das Unternehmen längst auf sie eingestellt.

Die Kunden können sich auf Pump alles mögliche leisten. Der 32-Zoll-Flachbildfernseher im Angebot etwa kostet 1.249,90 Reais, wenn man ihn sofort kauft oder 2.234,70 Reais in 18 Monatsraten.

Klar, die Krise spüre man jetzt schon, sagt Flávia, die Umsätze sinken, quer durch alle Bereiche. Trägt Casas Bahia aber nicht eine Mitschuld daran, dass sich die Kunden immer weiter verschulden? Die Marketingdirektorin antwortet kühl. Die Einkommensverhältnisse würden geprüft, sagt sie. „Wenn sich die Leute verschulden, haben wir keine Kontrolle darüber.“

Die Kunden sollen aber das Gefühl haben, Casas Bahia auch in schwierigen Zeiten vertrauen zu können. Bevor es einen Kunden verliert, stundet das Unternehmen schon mal Schulden. Ob darauf weiter Verlass ist?

Die Brasilianer, das haben auch die Forscher von Data Popular herausgefunden, schauen jetzt genauer, wo sie einkaufen, sie achten auf billige Marken, vergleichen Preise. Sie haben zwar schlechte Laune, aber sie konsumieren weiter, so lange es geht. Wer kauft, der bleibt.

Aber bleibt auch Dilma?

Der Präsidentin gelang der politische Aufstieg im Schatten Lulas, sie war Ministerin unter ihm und Kabinettschefin. Heute ist sie so unpopulär wie keiner ihrer Vorgänger seit der Wiedereinführung der Demokratie vor drei Jahrzehnten. Zwei Drittel der Brasilianer unterstützen ein Amtsenthebungsverfahren. Aber der Kongress zögert noch.

Sônia Santana Leardini wurde das Einkaufen auf Pump fast zum Verhängnis

Ein Amtsenthebungsverfahren sei zu risikoreich für Brasiliens fragile Demokratie, findet Eduardo Cunha, der Präsident der Abgeordnetenkammer. Er gehört der Zentrumspartei PMDB an – stärkste Kraft im Parlament und einst wichtiger Verbündeter der PT. Seine Fraktion torpediert inzwischen einzelne Regierungsprojekte, er selbst, sagt er, gehöre seit Juli zur Opposition. Rousseff hat noch mehr Partner verloren. Zwei kleinere Parteien aus dem Arbeiterspektrum haben ihre Koalition jüngst verlassen.

Auch sonst wird es eng. Der riesige Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras – mit einem Umsatz von knapp 130 Milliarden Euro das größte Unternehmen Brasiliens – ist längst nicht ausgestanden. Es geht um Schmiergeldzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe. Die größten Baukonzerne des Landes sind darin verwickelt und Politiker fast aller Parteien.

Es gibt Hinweise, dass Rousseffs Wiederwahlkampagne mit illegalen Spenden finanziert wurde, von Firmen, die in den Korruptionsskandal verwickelt sind. Bislang allerdings konnten die Behörden der Präsidentin kein illegales Tun nachweisen. Dass sie gar nichts mitbekommen hat, wollen viele nicht glauben. Sie saß früher sogar im Petrobras-Verwaltungsrat.

In dieser Woche hat sich Rousseff lautstark zu Wort gemeldet. Man müsse „zuerst an Brasilien“ denken, um die Krise durchzustehen, und nicht an Partei- oder persönliche Interessen, sagte sie bei der Übergabe von So­zial­woh­nun­gen des Regierungsprogramms „Mein Haus, mein Leben“. Es brauche jetzt vor allem eines: politische Stabilität.

Stabilität, die es wirtschaftlich nicht gibt. Marcelo Se­gre­do rechnet damit, dass die Krise noch lange anhält, mindestens zwei Jahre: „Das wird die schwerste Krise der vergangenen Jahrzehnte sein.“ Marktforscher Renato Meirelles ist optimistischer. „Auch andere Wirtschaftskrisen gingen vorbei“, sagt er. Die Brasilianer, da ist er sich sicher, werden gestärkt hinausgehen.

In Itaim Paulisa, am Stadtrand von São Paulo, schiebt Lavinia den Kinderwagen auf die Straße, ein Modell, mit dem man sich auch im Prenzlauer Berg blicken lassen könnte. Sie ist glücklich, dass Luan und sie immer noch zusammen sind, „die meisten jungen Mütter sind schließlich Alleinerziehende“. Bald wird es dunkel, davor wollen sie noch schnell einkaufen. Letzte Woche erst wurde auf der Straße ein Junge erschossen, erzählt Luan nebenbei.

Klar, er träumt immer noch von einem größeren Haus mit eigenen Schwimmbecken, einem Range Rover vor der Tür, wer tut das nicht? Jetzt aber erst mal den Fernseher abbezahlen. Er fühlt sich wohl im Viertel. „Mein Leben ist hier“, sagt er. Hier soll sein Sohn aufwachsen. Und er soll es einmal besser haben.

Sebastian Erb, 31, ist Redakteur der taz.am wochenenende. Mit einem Stipendium der Internationalen Journalistenprogramme verbrachte er zwei Monate in São Paulo