Neue Lakritze aus alten Krügen

Der alte norwegische Handelsplatz Kjerringøy baut auf neue Ferienhäuser und den alten Nobelpreisträger Knut Hamsun. Nordischer Mythos und Schollen-Ideologie ganz nah am Polarkreis. Ein Abstecher in touristisches Neuland

von BARBARA SCHAEFER

Elise Viksans hellrote Locken umrahmen ihr Gesicht, als stünde sie immer im Schimmer des Abendlichts. Ihre grünen Murmelaugen glänzen wie teure Exemplare aus ihrem Sortiment. In ihrem Laden in Bodø mit Schmucksteinen, Glasperlen und Basteltand wuselt die 37-Jährige hin und her und gibt Tipps für Urlauber. „Sie müssen mal Krabben am Hafen essen“, das machten hier alle so. „Und gehen Sie mal nach Kjerringøy“, empfiehlt sie, „da ist Hamsun her.“

Ihre Freundlichkeit ist eine Mischung aus skandinavischer Herzlichkeit und amerikanischer Offenheit. Mit 17 fuhr sie zu Verwandten nach Washington, DC, „und ich bin einfach dort geblieben“. Zwanzig Jahre lang, dann hielt sie es nicht mehr aus. Hier sei ihr Einkommen um die Hälfte niedriger, aber die Lebensqualität „um tausend Prozent“ höher. Weniger Stress, mehr Natur, auf diese Formel bringt Elise das Leben in Nordland, dem Bezirk Norwegens, der sich am Polarkreis entlangrankt.

Auf dem Kutter im Hafen schimmern die rosafarbenen Krabben verlockend, die dralle Fischerin wiegt eine Tüte ab, auf den Bänken am Hafen, im nicht enden wollenden Sonnenuntergang im Land der Mitternachtssonne, sitzen Einheimische und Urlauber, pulen Krabben und trinken etwas verschämt Bier dazu. Bier ist das einzig frei verkäufliche Rauschmittel in Norwegen, schon wer Likör möchte, muss in einen Laden der staatlichen Kette Vinmonopolet. Hier fühlt man sich wie ein Junkie, der seinen Stoff abholt, zu überhöhten Preisen, versteht sich.

Morgens fährt ein Bus nach Kjerringøy, einem alten Handelsplatz, vierzig Kilometer nördlich von Bodø. Der Schriftsteller Knut Hamsun war nicht wirklich von dort, aber er war dort. Er fuhr zur vermögenden Fischhandelsfamilie Zahl und pumpte sich Geld. Damit zog er sich zurück und begann zu schreiben. So begann sein Einstieg in den Ruhm, 1920 bekam er den Literatur-Nobelpreis für „Segen der Erde“.

Kjerringøy ist heute eine Art Freilichtmuseum, historische Holzhäuser, in Falunrot und Gelb gestrichen, versammeln sich im Glanz einer großartigen Landschaft: Da ragen Granitberge in den Himmel, an weiße Sandstrände plätschert im Sonnenlicht das Meer. Eine perfekte Filmkulisse, und tatsächlich wurden hier Hamsuns Romane „Pan“, „Landstreicher“ und „Der Telegrafist“ – verfilmt.

Die Kartenverkäuferin im Herrenhaus von Kjerringøy trägt ein dickes blaues Baumwollkleid, einen Kattunkittel, könnte man dazu wohl sagen. „Hauptsächlich Senioren“ kämen nach Kjerringøy, erzählt sie, die fühlten sich an alte Zeiten erinnert, an ihre Jugend. Beim Gang durch das Herrenhaus sagt die Fremdenführerin voller Stolz, das Haus sei wie Norwegen: „Es ist nach Norden ausgerichtet, und je weiter nördlich man kommt, desto schöner wird es.“ Und führt die Besucher von den Kammern in die Stuben und in die Bibliothek. Die Führung endet im Laden, in dem Süßigkeiten verkauft werden. Eine Verkäuferin öffnet eine Tüte Lakritzbonbons aus dem Supermarkt und schüttet die Bonbons in einen Tonkrug. Sie werden einzeln angeboten, wie früher.

Finanziert wurden diese Häuser – samt Brokatvorhängen, blauem Porzellanservice aus Hannover und Pariser Tapeten von 1840 voller Szenen mit Bauchtänzerinnen und Kamelen – vom Geld der Fischer von Kjerringøy. Diese haben indirekt auch Hamsuns Nobelpreis-Roman finanziert. Dieser handelt von der Besiedelung des Nordens, dem anderen Gründungsmythos, nach der Fischerei. Die am braunen Boden klebende Schollenideologie des Romans brachte Hamsun in die Nähe der Nationalsozialisten. Im Klappentext der heutigen dtv-Ausgabe wird jedoch von einer „manchmal biblisch anmutenden Sprache“ geschwärmt, das in dem Roman vertretene Menschenbild sei „im Dritten Reich emphatisch begrüßt und durch die Ereignisse dieser Zeit in seiner Glaubwürdigkeit erschüttert“ worden, habe aber nichts von seiner Überzeitlichkeit eingebüßt. „Segen der Erde“ sei deshalb den bleibenden Werken und Werten der Weltliteratur zuzurechnen.

Tatsächlich? In diesem Roman schreibt der 58-jährige Schriftsteller auch über die nomadische Minderheit des Nordens, die Samen. Damals wurden sie allgemein Lappen genannt, das klang negativ und war auch so gemeint, aber Hamsun lässt es dabei nicht bewenden. Er fabuliert: „Die Lappen treiben sich in der Einöde im Dunkeln herum, wenn sie in Licht und Luft gebracht werden, gehen sie ein wie Maden und Ungeziefer.“ Bleibende Werte der Weltliteratur?

In Kjerringøy wird allenthalben auf Hamsun hingewiesen, in den Regalen des Herrenhauses stehen Erstausgaben seiner Werke, die er als Dank an seine Gönner schickte. Vielleicht sollte jemand mal wieder einen Blick hineinwerfen.

Kjerringøy ist ein wenig charmanter Name, „Altweiberinsel“ heißt das in etwa. Jenseits des Freilichtmuseums ist Kjerringøy auch noch ein normales Dorf, mit einem Seniorinnenheim. Um aber just dieses Dorf auch für jüngere Menschen attraktiver zu machen, soll nun die Marina ausgebaut werden. Ein Sturm der Entrüstung entbrannte darob in den Lokalzeitungen. „Kjerringøy zerstört“, ruft in riesigen Lettern Avisa Nordland. Wer ein paar Seiten weiterblättert, findet dann in derselben Ausgabe von Avisa Nordland eine ganzseitige Anzeige, die die neuen Ferienhäuser in Kjerringøy zum Verkauf anpreist.