Start der Ruhrtriennale in Dinslaken: Accatone – Lost in Lohberg

Johan Simons eröffnet die Ruhrtriennale am Freitag mit der Inszenierung von „Accatone“, ausgerechnet im Dinslakener Problemstadtteil Lohberg.

Johan Simons. Foto: Stephan Glagla/pottmedia

Lohberg liegt am Rand vom Rand. Ein Stadtteil Dinslakens an der nördlichen Peripherie des Ruhrgebiets, ehemaliger Zechen-Standort mit 6.000 Einwohnern. Doch seit anderthalb Jahren gerät Lohberg immer wieder ins Zentrum des Nachrichtengeschehens, geistert als Salafistengespenst durch die Medien. Denn von hier aus machte sich 2013 eine Gruppe von rund 20 jungen Männern Richtung Syrien und Irak auf, um sich dem mordenden Feldzug des IS anzuschließen.

Auch selbst verschuldet kommt das stark migrantisch geprägte Örtchen seither aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Erst jüngst enthüllte der Journalist Ahmet Senyurt aktuelle Fotos, auf denen der Jugendwart der Ditib-Moschee in den Kellerräumen des Gotteshauses mit einem Jugendlichen posiert, der lachend den berüchtigten Salafistenfinger, also den erhobenen Zeigefinger, gen Himmel streckt.

Ein erklärendes Statement hielten die Moschee-Verantwortlichen nicht für nötig, und erst der Druck des Ditib-Dachverbandes führte zum Rücktritt des kompletten Vorstands. Der Salafistenspuk ist noch nicht zu Ende.

Ein staubiges Ungetüm

Gegenwärtig tauchen wieder viele Kameras und Mikrofone in Lohberg auf. Doch ihr Interesse ist ein anderes. Denn erstmals ist die Zeche in den Reigen der Industrieruinenspielplätze der Ruhrtriennale aufgenommen worden. Das verdankt sie Johan Simons, dem neuen Intendanten der Ruhrtriennale. Vor zwei Jahren – das Salafisten-Problem war noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen – suchte der niederländische Theatermacher nach neuen Spielorten für das Festival. Und verliebte sich ausgerechnet in die Kohlenmischhalle von Lohberg.

In dem 210 mal 65 Meter messenden, aus einer riesigen Dachkonstruktion bestehenden, staubigen Ungetüm wurden bis zur Schließung der Zeche 2005 Kohlen gemischt und gelagert. Heute ist die Halle Teil eines knapp 250 Hektar großen Zechenensembles, das unter Federführung der Ruhrkohle AG zum „Kreativ.Quartier.Lohberg“ weiterentwickelt wird.

Künstler haben hier Ateliers mit Malocherflair bezogen und häkeln Poller zu. „Innovative“ Industrien sollen angesiedelt werden, und Lohberg zum ersten „CO2-neutralen Stadtquartier mit Modellcharakter“ aufsteigen. Dass die Kohlenhalle nun als Spielort des seit 2002 stattfindenden internationalen Kulturfestivals ausgewählt wurde, dürfte die Kreativ-Planer erfreuen. Zieht damit doch sechs Wochen lang die Hochkultur an den Niederrhein.

Geboren aus der Arbeitsmigration

Die Lohberger haben andere Sorgen. Sie tauchen in den Entwicklungsplänen ohnehin weniger als kreatives Potenzial denn als soziales Problem auf. Geboren aus der kohlenindustriellen Arbeitsmigration, handelt es sich um den wirtschaftlich, sozial und bildungsspezifisch prekärsten Stadtteil Dinslakens. Eine Situation, in der das Sozialarbeitswesen aufblüht und eine Fördermaßnahme die nächste jagt, ohne dass sich an den problematischen Eckwerten viel veränderte.

Auch dem Kreativ-Gedöns-Treiben auf dem Zechengelände stehen die Lohberger eher befremdet gegenüber. Was schon an räumlichen Hürden greifbar wird: Eine viel befahrene Straße grenzt das Zechenareal und die gartenstädtische Wohnkolonie scharf voneinander ab, und bis jetzt verirren sich die Einwohner nur selten in den sogenannten Bergpark, der auf einem Teil des Zechenareals künstlich angelegt wurde.

Auch die 4 Meter rote Hasenskulptur mit Ziegenbärtchen, die in den Hügeln thront – eine Arbeit des international bekannten Künstlers Thomas Schütte, die sichtbar auf einer Vorlage seiner Tochter beruht –, ist schon zum Running Gag im Viertel geworden. Das ist in Wahrheit der Teufel, raunt mir ein junger Mann am Marktplatz zu, verdreht die Augen und zieht lachend von dannen.

Und nun landet in den Zechenruinen auch noch das Ruhrtriennale-Raumschiff mit Commander Simons. In der Kohlenmischhalle eröffnet das Festival am 14. August erstmals mit einer Festspielrede. Der Philosoph Byung-Chul Han wird sich über alternative Lebensmodelle jenseits des Arbeitsimperativs Gedanken machen, gefolgt von einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Die Zukunft den Arbeitslosen!“

Jede Anstrengung verweigert

An dieses Motto wird Intendant Simons nahtlos anknüpfen, wenn er die Spielzeit mit der Uraufführung von „Accattone“ eröffnet, einer theatral-musikalischen Adaption des gleichnamigen Films von Pier Paolo Pasolini.

Der hatte seine Geschichte Anfang der 1960er Jahre an den wüsten Rändern Roms angesiedelt, im Milieu des Subproletariats, unter Huren, Zuhältern, Arbeitslosen, Deklassierten. Titelheld Accattone verweigert sich stolz und trotzig jeder mit Anstrengung verbundenen Arbeit, und es ist diese Verweigerungshaltung gegenüber der Lohnarbeit als Wertmaßstab des Menschseins, worin laut Simons die Aktualität dieser Antipassionsgeschichte liege.

Lohberg als pittoreske Schachtkulisse

Es ist weniger das Stück selbst, das die kurze Protestnote provozierte, mit der sich der stellvertretende Bürgermeister Dinslakens, Eyüp Yildiz, in der Ruhrtriennale-Zeitung im Mai zu Wort meldete. Vielmehr befürchtet der SPD-Politiker, dass Lohberg zur pittoresken Schachtkulisse verkomme, „in der sich die Gesellschaft des Kulturspektakels für einen Sommer lang feiert, um dann weiterzuziehen“.

Vor allem zweifelte er an der Glaubwürdigkeit des Mottos, unter das Simons die Triennale gestellt hat: Das „Seid umschlungen“ aus Schillers „Ode an die Freude“ soll als Umarmung und Einladung an alle, also gerade auch an kulturferne Bewohner des Ruhrgebiets, verstanden werden, sich auf die eher elitäre Kulturveranstaltung einzulassen. Auf diesen Öffnungsgestus reagierte Yildiz in seinem Zwischenruf skeptisch: „Kein Lohberger hat ihn seitdem zu Gesicht bekommen.“

Auch wenn das so pauschal nicht stimmt, zeigt doch Simons respektvolle Reaktion auf Yildiz’ Kritik, dass er sich in seiner grundsätzlichen Haltung als Künstler herausgefordert fühlt. Kaum ein Satz bestimmt das Ethos und Theaterschaffen des 68-Jährigen so sehr wie der, Theater für Menschen machen zu wollen, die sonst kaum ins Theater gehen.

Aus einfachen Verhältnissen stammend, gründete er Anfang der 1980er Jahre das Theaterkollektiv Hollandia. Dessen Markenzeichen war es schon lange vor der Ruhrtriennale, aus den Beschränktheiten des Stadttheaters auszubrechen, um an ungewöhnlichen Orten zu inszenieren – in Scheunen und Fabriken, auf Schrottplätzen oder unter Brücken.

Der Brückenschlag in die Wirklichkeit

Der Erfolg, den Simons mit Hollandia bald schon feierte, ist jedoch janusköpfig. Am Ende ist es das Kulturbürgertum der Städte, das sich in den Inszenierungen tummelt, doch der Brückenschlag in die Wirklichkeit der Menschen an diesen Orten gelingt nicht wirklich. Ein Scheitern, an dem sich bis heute nichts geändert hat, wie Simons zugibt. Wird es da nicht zur leeren Geste, diesen Anspruch doch immer wieder zu formulieren?

„Solange die Gesellschaft so ist, wie sie ist, kann man nicht von Erfolg sprechen. Da kann man nur von Scheitern sprechen. Aber deswegen einfach aufgeben, das werde ich nie tun. Ich werde immer wieder einen Versuch starten.“ Simons Interesse an der Realität der Menschen seiner Spielorte ist aufrichtig.

Seit der Yildiz’schen Protestnote wurden die dialogischen Aktivitäten in Lohberg verstärkt. Letzten Samstag lud Simons die Bewohner auf den Lohberger Marktplatz zum Gespräch, einzelne Probentermine wurden für Interessierte geöffnet. Und mit dem Vizebürgermeister hat sich ein reger Austausch über Lohberger Wirklichkeiten entwickelt, zur Eröffnungsdebatte wird er auf dem Podium sitzen.

Leben in der Leere

„Yildiz hat mir über Lohberg etwas sehr Wichtiges vermittelt“, so Simons im Gespräch. „Wir – und da hat er ausdrücklich sich und mich mit einbezogen – haben es versäumt, die Menschen hier an die Hand zu nehmen und ins Zentrum zu ziehen. Das hat eine Leere hinterlassen, und da sind die Extremisten hineingesprungen.“

Die Menschen, die in dieser Leere lebten, die seien ein neues Subproletariat, ist Simons überzeugt. „Für Pasolini besitzt das Subproletariat revolutionäres Potenzial, und daran bin auch ich interessiert. Das möchte ich auf der Bühne zeigen, und ich würde mir wünschen, dass sich vielleicht auch die Lohberger davon berühren lassen.“

Ein Teil dieses Subproletariats sieht seine revolutionäre Bestimmung gegenwärtig allerdings eher darin, möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu sprengen. Sodass sich die Frage stellt, ob Simons’ Hoffnung hier analytisch nicht zu kurz greift. Man würde sich eine Auseinandersetzung mit der Lohberger Situation wünschen, die die Realität der Migration stärker einbezieht.

Eyüp Yildiz ist davon überzeugt, dass sich in seiner Heimat gegenwärtig exemplarisch das Scheitern der deutschen Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte beobachten lasse. Viele Migranten mit und ohne deutschen Pass habe das Gefühl nie wirklich verlassen, hier nicht angenommen zu sein. In der Konsequenz suchten viele Muslime längst ihr Heil in religiös-konservativen Identitätsangeboten à la Erdoğan, anstatt sich mit der deutschen Realität auseinanderzusetzen. Es ist dieses vorläufige Scheitern der Integration, das Dialogversuche wie die von Johan Simons schwierig gestalten dürfte. Aber er steht ja auch erst am Anfang seiner dreijährigen Intendanz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.