Strahlenschäden bei Atomarbeitern: Ausstieg aus der Verharmlosung

Die Langzeitstudie zu den Leukämieerkrankungen von Atomarbeitern zeigt: Auch Niedrigstrahlung löst Krebs aus.

AKW-Arbeiter wird auf radioaktive Strahlung überprüft

Kontrollmessung beim Verlassen des Sicherheitsbereiches eines AKW. Foto: imago/ITAR-TASS

Radioaktive Strahlung transportiert Energie. Wenn man ein wenig dramatisiert, könnte man von einem kleinen Bombardement sprechen. Energiegeladene Teilchen sausen durch unseren Körper, attackieren Gewebestrukturen und können auch die DNA schädigen. Im schlimmsten Fall resultiert daraus eine Krebserkrankung. Wie gefährlich Radioaktivität – auch in kleinsten Dosen – ist, darüber streiten Forscher und Strahlenschützer seit Jahrzehnten mit verbissener Emphase.

Jetzt liefert eine im britischen Medizinerjournal The Lancet veröffentlichte Studie neue Erkenntnisse. Die Kollegen von Nature sprechen von einem echten „Meilenstein“. Die Studie liefert ungewöhnlich datenschwere Belege für den Zusammenhang von Niedrigstrahlung und Leukämie bei Atomarbeitern.

Das eigentlich Erstaunliche: Die aufgenommene Strahlung war extrem niedrig und dennoch ist ein signifikanter Leukämie-Anstieg erkennbar. Auch andere Blutkrebserkrankungen wie Lymphome und multiple Myelome waren erhöht, allerdings nicht in statistisch-signifikantem Ausmaß. In ihrem Summary sprechen die Forscher von „einer starken Evidenz“ für das Auftreten gehäufter Leukämien bei Niedrigstrahlung über längere Zeiträume.

Schon allein die nackten Zahlen der Studie sind beeindruckend: 308.297 Atomarbeiter aus Frankreich, Großbritannien und den USA wurden im Durchschnitt fast 27 Jahre lang beobachtet. Das ergibt 8,2 Millionen Personen-Jahre, die in die Studie eingeflossen sind. Im Beobachtungszeitraum starben 531 Atomwerker an Leukämie, 814 an Lymphomen und 293 an einem multiplen Myelom. Gegenüber den im „Normalfall“ zu erwartenden Krebsfällen waren die Anstiege zwar nur gering, aber bei den Leukämien dennoch signifikant. Zum Vergleich: In Deutschland erkranken jährlich etwa 12 von 100.000 Menschen, aber nicht immer verläuft die Leukämie tödlich.

Die riesige Kohorte, das jahrzehntelange Monitoring und die angesichts der seltenen Krankheiten relativ hohen Zahlen von Blutkrebserkrankungen sollen nun endlich belastbare Auskunft geben zu den Risiken radioaktiver Niedrigstrahlung. Die Ergebnisse sind nicht unbedingt überraschend: Auch andere, kleinere Studien seien zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen, sagt die deutsche Physikerin und Strahlenschutzexpertin Inge Schmitz-Feuerhake.

Aber diesmal, so die Professorin, würden die beobachteten Zusammenhänge von der Autorität anerkannter Forscher aus dem Establishment des Strahlenschutzes getragen, die diese Studie verantworten. Und von einem aufwendigen, ja einmaligen Studiendesign. Und ausgerechnet in Frankreich, dem Land mit der höchsten Dichte an Atomkraftwerken, liegt das wissenschaftliche Headquarter für die Studie: das Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) in Fontenay-aux-Roses.

Natürliche Strahlenbelastung

Alle in die Studie aufgenommenen Atomarbeiter haben mindestens ein Jahr lang in einer militärischen oder zivilen Atomanlage gearbeitet. Alle haben ein Dosimeter getragen, das ihre Strahlenbelastung gemessen hat. Die dabei ermittelten Werte lagen im Durchschnitt bei 1,1 Millisievert im Jahr, ein sehr niedriger Wert. Die „natürliche“ radioaktive Hintergrundstrahlung liegt in Deutschland bei 2,1 Millisievert. Der Grenzwert für Beschäftigte in der Atomindustrie wurde in Deutschland auf 20 Millisievert im Jahr festgelegt.

In Japan hat man nach der dreifachen Fukushima-Kernschmelze den Grenzwert für die Atomarbeiter auf 250 Millisievert erhöht

In Japan hat man nach der dreifachen Fukushima-Kernschmelze den Grenzwert für die Atomarbeiter auf 250 Millisievert erhöht. Die Erklärung der beteiligten Forscher, es müsse alles getan werden, um „den Strahlenschutz zu verbessern und Strahlenbelastungen so stark wie irgend möglich zu reduzieren“, klingt angesichts der ungenierten Heraufsetzung der Werte in Japan wie ein eher verzweifelter Hilferuf.

Die Studie“, so kommentiert Nature eher ernüchternd, werde „die bestehenden Richtlinien im Strahlenschutz nicht verändern“. Aber: Die noch immer weit verbreitete Ansicht, es könne einen Schwellenwert für Radioaktivität geben, bei dessen Unterschreitung keine Gefahr mehr besteht, diese „populäre Idee ist jetzt zerstört worden“. Und die Wissenschaft hat nun harte Zahlen im Gepäck, um die täglichen kleinen Strahlenrisiken besser einzuschätzen.

Das gilt nicht nur für die untergehende Atomindustrie. Das gilt vor allem auch für die Medizin. In allen Industrieländern haben die Strahlenbelastungen durch neue bildgebende Verfahren wie etwa die Computertomografie stark zugenommen und sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt oder verdreifacht.

Medizinische Strahlenbelastungen

Die medizinische Belastung wird in den USA auf jährlich 3 Millisievert geschätzt, das ist fast dreimal so viel, wie die 300.000 Atomwerker aus der Studie im Schnitt abbekommen haben. In Deutschland sind es 1,9 Millisievert im Jahr.

US-Forscher David Richardson, einer der an der Studie beteiligten Epidemiologen, sieht die Medizin als einen der wichtigsten Verursacher ionisierender Strahlung mit weiter zunehmender Intensität. Ein einziger CT-Scan des Brustkorbs verursache bereits eine Strahlung von mehr als 10 Millisievert, rechnet Richardson vor. Allein in den USA werden jährlich Millionen CT-Scans veranlasst, auch Kinder kommen immer öfter in die Röhre.

Und nicht nur Patienten, auch das medizinische Personal ist stark gefährdet – etwa wenn Katheter unter radiologischer Beobachtung in Blutgefäße geschoben werden. Viele als „minimalinvasiv“ gelobte Verfahren, die medizinisch immer wichtiger werden, bringen Strahlenbelastungen für Patienten und Personal mit sich, wobei die medizinischen Helfer Tag für Tag kleinen Dosen ausgesetzt sind. Nutzen und Risiken vieler Untersuchungen müssen nun neu bewertet werden.

Wie ist die Studie aufgenommen und diskutiert worden? Natürlich sind die Zusammenhänge hochkomplex und es existieren neben der Strahlung noch andere multiple Einflussgrößen für Krebs. Doch an der Seriosität und Sorgfalt der Studie gibt es keinen Zweifel. Die Mainzer Bio-Statistikerin Maria Blettner, Mitglied der Strahlenschutzkommission, kritisiert, dass Lifestyle-Faktoren, medizinische Strahlenbelastungen oder Risiken durch chemische Stoffe nicht berücksichtigt worden seien. Aber warum sollten diese Faktoren in der Atomwerker-Kohorte besonders gravierend sein und die Ergebnisse verfälschen?

Ein wichtiger Wendepunkt

Ein anderer Kritikpunkt mag die ausschließliche Fixierung auf Blutkrebs-Erkrankungen sein. Aber sie sind die am häufigsten mit radioaktiver Strahlung assoziierten bösartigen Erkrankungen. Andere Krebse der Organe oder Herzkrankheiten, die nach Tschernobyl gehäuft auftraten, sind nicht untersucht worden.

Der Berliner Epidemiologe und Herausgeber des Strahlen-Pschyrembel, Christoph Zink, bewertet die Studie dennoch als möglicherweise wichtigen Wendepunkt im Strahlenschutz und „Einstieg in ein neues Zeitalter realistischer Risikobetrachtungen“. Zink fordert nach dem Atomausstieg auch einen Ausstieg aus der alten Verharmlosungsstrategie durch die Internationale Strahlenschutzkommission.

Fast alle Risikobetrachtungen und Grenzwerte gründeten sich auf Studien zu den Hiroshima-Überlebenden. Jetzt liegen aber ganz andere Daten vor. Zink: „Die Studie bietet die Chance, uns wissenschaftlich endlich ehrlich zu machen.“

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