Agent des Geheimen

Es ist schon merkwürdig, welch dramatische Verdichtung sich bisweilen im realen Leben ereignet. Während die Schriftstellerin Herta Müller am Dienstag in Stockholm weilte, wo ihr zwei Tage später der Nobelpreis für Literatur verliehen werden sollte, gab in München der Dichter Werner Söllner auf einer Tagung des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas vor mehr als zweihundert Zuhörern zu, Müller in den Siebzigerjahren unter dem Pseudonym „Walter“ für die Securitate bespitzelt zu haben.

Werner Söllner, 1951 im rumänischen Horia geboren und 1982 nach Frankfurt am Main übergesiedelt, ist beileibe kein Unbekannter: Er ist einer der angesehensten deutschsprachigen rumänischen Lyriker überhaupt, unter anderem wurde er 1985 mit dem Andreas-Gryphius-Förderpreis und 1988 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Söllner, der seine Examensarbeit über Paul Celan geschrieben hat, von dessen Einfluss seine Lyrik bis heute stark geprägt ist, publiziert seine Gedichte bei Suhrkamp und Ammann. Seit 2002 ist er Leiter des hessischen Literaturforums in Frankfurt am Main. Bewegende Gedichte hat er geschrieben, zweifelsfrei. In einem der schönsten heißt es: „Nacht, gelb / von Gewittern, die Häuser / sind leer, im kühlen Grund / wo der Holunder sich hält / schlafen die Schläfer / sich aus der Welt“.

Was an der Causa Söllner so sehr verwundert, ist die beinahe schon als schizophren zu bezeichnende Diskrepanz zwischen Oeuvre auf der einen und Handeln auf der anderen Seite. „In jedem Gedicht lebt ein Geheimnis, das nicht auf den ersten Blick entschlüsselt werden darf“, hat Werner Söllner einmal gesagt. Umso merkwürdiger mutet es jetzt an, wenn er zugibt, Gedichte rumänischer Lyriker für die Securitate interpretiert zu haben. Warum verrät ein Autor nicht nur die eigenen Freunde, sondern gleich auch noch die eigene Poetik, das eigene Verständnis von Dichtung? Vermutlich weiß auch Werner Söllner auf diese Frage keine befriedigende Antwort zu geben. Doch hier, in der außerlyrischen Wirklichkeit, können einen solcherlei unentschlüsselte Geheimnisse mitunter eher traurig stimmen.

ANDREAS RESCH