Einmal wegdriften für zwischendurch

ARBEITSWELT Müdigkeit am Arbeitsplatz ist ein Tabu – dabei ist das Nachmittagstief völlig normal. Das „Nickerchen“ in Kreuzberg bietet Schlafkojen, in denen man für ein paar Euro wieder auftanken kann. Unsere Autorin hat es ausprobiert

Die Selbstoptimierungsrhetorik täuscht: Im „Nickerchen“ ist es vor allem flauschig und gemütlich Foto: Stephanie von Becker

VON Stephanie Grimm

Ein junger Mann mit Polohemd und französischem Akzent kommt herein, Ladenbetreiberin Irina Ivachkovets begrüßt ihn freudig. Offenbar ist er Stammgast im „Nickerchen“ und muss nicht eingewiesen werden, bevor er für 20 Minuten in einer der Kojen verschwindet, die man hier mieten kann. Mit hellen Vorhängen sind sie voneinander getrennt, drinnen findet man einen Nachtisch und eine Matratze vor, dazu Schlafbrille und Ohrenstöpsel. Der junge Mann erzählt, dass er in einem Büro in der Nähe als IT-Spezialist arbeitet, dauernd piepst sein Handy.

Auch ich arbeite gleich um die Ecke, das „Nickerchen“ kenne ich vom Vorbeigehen. Bisher hatte mich die Rhetorik an der Ladenfront abgeschreckt. In großen Lettern wird Abhilfe bei leeren Akkus versprochen oder auch, dass man hier fit gemacht werde fürs Abendprogramm. Ich bin zwar Schlaf-Fan, finde aber nicht, dass auch noch der Schlaf dem Streben nach Effizienz unterworfen werden muss. Drinnen jedoch ist es vor allem flauschig und gemütlich. Hier erinnert wenig daran, dass das gute alte Mittagsschläfchen zum „Power-Nap“ umgedeutet wird, damit es auch im Werkzeugkasten karrierebewusster Selbstoptimierer sein Plätzchen findet.

Irina Ivachkovets hat eine gemütliche Oase für Erholungssuchenden eröffnet. Man kann sich massieren lassen – von einem Shiatsu-Sessel oder der Inhaberin selbst – oder sich für einen Mittagsschlaf zurückziehen. Eine halbe Stunde Schlummern kostet 7 Euro, für 5 Euro darf man sich immerhin 20 Minuten hinlegen. Bucht man noch ein Audioprogramm und eine Spezialbrille zum Abschalten dazu, werden 3 Euro zusätzlich fällig.

Blutdruck im Keller

Irina ist sichtlich darum bemüht, ihre Gäste dort abzuholen, wo sie sind. Eine schüchterne Besucherin, ebenfalls aus den umliegenden Büros, schämt sich für die starke Müdigkeit, die sie am Arbeitsplatz oft überfällt. Bevor sie sich auf eine Auszeit einlassen kann, muss sie sich versichern lassen, dass ein Tief am Nachmittag ganz normal ist. Die innere Uhr hat schließlich nicht nur einen Tag-Nacht-Rhythmus, unsere Energiekurve folgt darüber hinaus einem 4-Stunden-Zyklus. Ungefähr zwölf Stunden nach dem Tief, das uns nachts in den Schlaf schickt, lässt er den Blutdruck in den Keller rutschen und sorgt dafür, dass wir schlapp genug für einen Mittagsschlaf sind.

Ivachkovets weiß aus eigener Anschauung, dass es dem Schlaf nicht gut geht in unserer zeitoptimierten Welt. Mit einem Schlafdefizit hatte die Mitdreißigerin in ihrem früheren Job als Projektleiterin in der Eventbranche oft zu kämpfen. Sogar aufs Klo zog sie sich bisweilen zurück, um einmal kurz die Augen zu schließen. Und wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, rollte sie in einem Nebenraum ihre Yogamatte aus. So entstand die Idee, ein Schlaf- und Entspannungsstudio zu gründen – übrigens derzeit bundesweit das einzige. In Deutschland ist es um die Kultur des Mittagsschlafs nicht gut bestellt.

Schlafforscher bemängeln, dass die Menschen immer weniger schlafen – deutlich zu wenig sogar. Nicht nur der Körper, auch das Gehirn braucht regelmäßigen Schlaf – für biochemische Aufräumarbeiten. Die Ausschüttung der richtigen Hormone zur richtigen Tageszeit ist daran gekoppelt, dass wir genug schlafen. Übergewicht, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, aber auch Demenz gelten als mögliche Folgen von Schlafmangel.

Die Arbeitswelt allerdings tut so, als lebten wir noch in agrarischen Zeiten, wo Morgenstund tatsächlich Gold im Mund hatte, weil man das Licht der Sonne brauchte, um sein Tagwerk zu schaffen – der Job ruft uns zur Unzeit. Abends wiederum kommen wir nicht ins Bett, weil wir uns in hell ausgeleuchteten Welten herumtreiben. Selbst wenn wir zu Hause entspannt auf dem Sofa liegen, wandert unser Blick über Bildschirme und Displays – und die torpedieren den Schlaf, weil die überproportionalen Blaulichtanteile ihres Lichts das schlafinduzierende Hormon Melatonin ausbremsen.

Angesichts der alarmistischen Meldungen über die Folgen des verbreiteten Schlafdefizits ist eine Tatsache tröstlich: Entscheidend ist, dass unterm Strich genug herauskommt. Wer nachts nicht genug ruht, muss eben tagsüber nachschlafen.

In manchen Teilen der Welt ist der Schlaf als Teil des Alltags auch heute noch selbstverständlicher: etwa am Mittelmeer, wo die Siesta zumindest mancherorts noch fest in den Tagesablauf integriert ist. Auch in Asien wird hemmungslos geschlafen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet – gegebenenfalls auch in der Öffentlichkeit oder bei der Arbeit. Die japanische Sprache hat sogar ein Wort dafür: „Inemuri“ bedeutet, zu schlafen, während man eigentlich etwas anderes tut – sich in einer Sitzung langweilen zum Beispiel.

Jetzt will ich es aber auch wissen: Zeit für einen Selbstversuch. Schließlich ist der Schlaf etwas Privates, bei dem man andere schlecht beobachten kann. Nur leider bin ich kein Mittagsschlaftyp, nie gewesen. Tagsüber abschalten ist für mich keine einfache Übung, und wenn ich besonders müde bin, scheint es mir noch schwerer zu fallen – als halte das Gehirn krampfhaft die Spannung, um den roten Faden nicht verlieren. Über diese Herausforderung freut sich Irina: „Das wollen wir doch mal sehen, ob du wirklich nicht einschlafen kannst.“

Mich zieht es erst einmal nicht in die Horizontale, sondern auf den Massagesessel. Der kostet für 20 Minuten 12 Euro, dazu gibt es eine Auswahl von Audioprogrammen, die beim Abschalten helfen sollen, und die bereits erwähnte, lichtdichte Spezialbrille namens Brainlight. Sie sendet britzelige Signale, so genannte Lichtionen, in Richtung Netzhaut und sorgt dadurch angeblich für Gehirnentspannung.

Die Brainlight-Brille ist ge-wöhnungsbedürftig. Erst einmal macht sie mich wuschig. Sobald ich mich aber daran gewöhnt habe, ist das diffuse Geflimmer super

Spaß für die Muskeln

Für die Muskeln ist es ein großer Spaß: Der Sessel walkt mich so tiefenwirksam durch, wie ich es von einer mechanischen Gerätschaft nicht erwartet haben. Die Brainlight-Brille dagegen ist gewöhnungsbedürftig. Erst einmal macht sie mich wuschig. Sobald ich mich aber daran gewöhnt habe, ist das diffuse Geflimmer super und erleichtert das Wegdriften. Nach 20 Minuten bin ich schön durchgeknetet – in Körper und Geist. Die Kopfhörer hatte ich allerdings nach wenigen Minuten abgesetzt. Meeresrauschen oder Vogelgezwitscher wäre für mich entspannender gewesen als der esoterische Duktus einer sonoren Männerstimme.

Die meisten, die zum Ausspannen ins „Nickerchen“ kommen, sind Büroangestellte aus den umliegenden Firmen. Seit sich das Konzept herumgesprochen hat, reisen sogar Kunden aus anderen Stadtteilen mit der U-Bahn an – um sich 20 Minuten hinzulegen! Ein paar Stammgäste haben die Auszeit regelrecht zum Pausenritual gemacht. Eine Frau mit zwei Teilzeitjobs etwa fährt auf dem Fahrrad von einem Job zum anderen und legt sich auf dem Weg regelmäßig im „Nickerchen“ hin.

Und obwohl in dieser Seitenstraße wenig Laufkundschaft unterwegs ist, kommt auch immer wieder mal ein neues Gesicht herein. Der Name macht offenbar neugierig. Gerade fragen zwei Studentinnen, die um die Ecke ein Seminar besuchen, interessiert nach, was man hier machen kann. Am Ende finden sie aber die Samba-Kurse, die Irina abends anbietet, spannender als die Option „Schlafkabine“.

An einem Tag, an dem ich viel zu früh aufstehen musste, versuche ich es dann doch noch einmal mit dem klassischen Mittagsschlaf. So schwer kann das ja nicht sein. Ich lege mich in eine der Kabinen, die orthopädische Matratze ist wirklich bequem. Langsam trudeln die Gedanken weg. Einschlafen kann ich zwar mal wieder nicht, aber schön ist es auf dieser Matratze. Pünktlich nach 20 Minuten holt Irina mich ins Hier und Jetzt zurück. Was ich erst im Laufe des Nachmittags merke: Ich bin erholter als sonst an solchen Tagen. Offenbar muss man gar nicht unbedingt einschlafen, es reicht, sich einfach mal hinzulegen.

Nickerchen, Zimmerstraße 27, Kreuzberg, geöffnet 11.31 bis 18.00 Uhr, Tel.: 0176 - 20 40 44 33. Weitere Infos und Preise auf www.nickerchen-berlin.de