Es geht auch anders

Recht experimentell waren das JazzFest und Total Music Meeting in Berlin. Gerne bezog man sich auf die historischen Avantgarden des Jazz – und am Schluss spielte Cecil Taylor dann selbst

Man fragt sich, wer hätte eingeladen werden können – statt der FolkloregruppenJazz ist in der Falle des Postmodernismus: Alles ist möglich, wenig ist ernst„Was in den 60ern Avantgarde war, ist heute Retro-Garde“, sagt Enrico Rava

VON CHRISTIAN BROECKING

„Ich liebe die Konfrontation“, sagt Han Bennink, „auf der Bühne herrscht Krieg.“ Er hatte damit eine Grunddisposition des improvisierenden Musikers gemeint, nicht jedoch die Berliner JazzFest-Realität am Freitagabend. Der Schlagzeuger war morgens um halb fünf aufgestanden, um den Flieger von Amsterdam nach Berlin zu schaffen, damit er ja pünktlich komme zu der als „historisch“ eingestuften Begegnung mit dem brasilianischen Multiinstrumentalisten Hermeto Pascoal. In der stark formatierten Festivallandschaft einen Act zu landen, den es so zuvor noch nicht gab, kann Profilierungspunkte für ein hochsubventioniertes Festival bringen, wenn er denn funktioniert. Doch beim Berliner JazzFest dauerte die Duo-Session nur fünf Sekunden. Zwei schnelle Takte, einmal das Klavier berührt, und Pascoal verschwand hinter der Bühne. Dass Bennink, einer der Protagonisten des europäischen Free-Music-Netzwerks, den Set mit einer Solo-Performance rettete, dankte ihm das Publikum. Pascoals Verhalten wurde zunächst mit vielen Fragezeichen, dann mit allerlei Ausdrücken bedacht – wahrscheinlich sollte man solchen Künstlern in die Verträge schreiben, dass Diva-Getue als Respektmangel empfunden und entsprechend abgestraft wird.

Und noch eins, gleich vorweg: Dass der ewige Konflikt des Berliner JazzFests um die Frage, auf welchen Kanon sich die Veranstaltung berufen solle, auch in diesem Jahr andauerte, provozierte hier und da noch launige Ratlosigkeit, mehr auch nicht. Und dass wild spekuliert wurde, welch inspirierende Jazz-Acts man hätte buchen können, wenn die türkischen und italienischen Folkloregruppen nicht verpflichtet worden wären, gehört längst zum kreativen Potenzial der Berliner Festivalgänger – sich vorzustellen eben, dass es auch ganz anders sein könnte.

Ansonsten war man sich sympathisch. Beim großen Eröffnungskonzert am Donnerstag im Haus der Festspiele glänzte das Liberation Music Orchestra des amerikanischen Bassisten Charlie Haden mit Arrangements von Carla Bley, die vom Klavier aus die Großformation leitete. Das Geheimnis, wie man mit singbaren Themen und harmoniesüchtiger Dichte den Widerstand gegen die Bush-Administration organisieren will, konnte jedoch nicht wirklich gelüftet werden. Haden beteuert, dass die Schönheit der Musik die gefährlichste Waffe sei, die er habe – doch Bley, die Mitte der Sechzigerjahre die New Yorker Avantgarde organisierte, fügt hinzu, dass sie die Arrangements, die Haden bei ihr bestellt hatte, für sehr gelungen hält, doch eigentlich liebe sie es eher laut und, ja, dissonant.

Fast zeitgleich, örtlich eine halbe Stunde vom JazzFest entfernt, gibt der afroamerikanische Trompeter Wadada Leo Smith beim Total Music Meeting in der Berlinischen Galerie eine spannungsreiche Solo-Performance. 1979 spielte Haden auf seiner Platte „Divine Love“ mit, heute unterrichten beide an dem vom Haden gegründeten Jazzfachbereich des Cal Arts Institute in Los Angeles – Smith übernahm dort 1993 den Dizzy-Gillespie-Lehrstuhl. Für ihn ist die künstlerische Aussage grundsätzlich politisch. „Wir leben nicht im Vakuum, jede künstlerische Äußerung ist sozialer Kommentar, Dialog, Interaktion“, sagt Smith: „Als schwarzer Künstler bin ich ständig mit dem rassistischen Amerika konfrontiert. Wenn ich eine Straße entlanggehe, muss ich mit dem Schlimmsten rechnen. Diese Erfahrung geht als eine Bedingung in den künstlerischen Prozess ein.“

Der 1941 geborene Musiker tritt heute nur selten in Europa auf; Ende der Siebziger, als er mit dem Bassisten Peter Kowald und dem Schlagzeuger Günter Baby Sommer spielte, war das noch ganz anders. Nach über 20 Jahren trafen sich Sommer und Smith jetzt zu einer würdevollen Neuauflage jenes Trios wieder – für den mittlerweile verstorbenen Kowald stand dessen einstiger Lehrer Barre Phillips auf der TMM-Bühne.

Der 1934 in San Francisco geborene Bassist macht schon seit Anfang der Sechziger Free Music, und er ist nach wie vor überzeugt. Phillips hat abrufbar parat, wie das war bei der so genannten Oktoberrevolution im New Yorker Jazz, 1964, erinnert sich an die Schockwirkung eines Albert Ayler und die Avantgarde-Workshops des Trompeters Don Ellis. „Wir machen das hier doch nicht zum Spaß“, witzelte Phillips vor einem Jahr beim „European Jazztival“ auf der Bühne des Literatursaals im Schloss Elmau, nachdem Sommer gerade ein wundersam inspiriertes Solo auf der Holzschlitztrommel gespielt hatte. Phillips meinte damals, das betuchte Publikum könne die Löcher und Schlitze in der kastenförmigen Trommel doch nützen, um Geldstücke, Banknoten oder auch Auto- und Hausschlüssel hineinzutun. Den improvisierenden Musikern käme eine Finanzierungsspritze jedenfalls sehr gelegen. Das Total Music Meeting, wird nur noch kurz erwähnt, bekommt gerade ein mal 25.000 Euro und ist damit dramatisch untersubventioniert.

Barre Phillips lebt seit 1969 in Frankreich. „In New York war ich ein professioneller Bassist gewesen, hier wurde ich als kreativer Künstler anerkannt – das machte den großen Unterschied.“ Der Multiinstrumentalist Elliott Sharp, der in dem noiseorientierten Soundscape-Projekt „Hidden Tracks“ beim JazzFest mitwirkte, bezeichnet New York heute als „besetzte Stadt“. Anfang der Siebziger studierte er zusammen mit den Lounge-Lizards-Gründern John und Evan Lurie bei dem Posaunisten Roswell Rudd, der über die Verbindung von Thelonious Monk, Duke Ellington und traditioneller afrikanischer Musik dozierte. Rudd lebte damals in einem riesigen Loft, das er für 50 Dollar gemietet hatte. Weil er die Heizung nicht zahlen konnte, schlug er mitten in der Wohnung ein Zelt auf, in dem er lebte.

„Es war ein unbeschreibliches Erlebnis, mit ihm herumzuhängen“, berichtet Sharp, „er erzählte, wie es mit Cecil Taylor war, als die New Yorker Avantgarde entstand, und wir hatten das Gefühl zu lernen, worum es geht. Auch in den Achtzigern war New York eine spannende Stadt für Kunst, die Luft brannte, die Leute gingen aus, waren neugierig, zur gleichen Zeit regierte Reagan im Weißen Haus. Heute haben die Leute Angst vor allem – wie ein Tier, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet. New York wird von den Business-Typen kontrolliert, die Künstler sind underground, in kleinen Clubs und online. Das ist eine negative Folge der Globalisierung, positiv hingegen könnte sich auswirken, dass die Künstler-Community jetzt online an kreativen Webradios partizipieren kann, zu jeder Zeit, an jedem Ort.“

Auch für den 1951 geborenen Sharp reflektieren kreative Künstler die politischen und sozialen Bedingungen. „Wenn ich zurückschaue, sehe ich permanente Kampfsituationen. Im Kontext der kulturellen Bewegungen der letzten 30 Jahre spüre ich, dass die Ohren weit geöffnet worden sind, dass jedoch die Mächtigen die Kultur behindern, wo sie nur können. Avantgarde-Künstler provozieren die ästhetischen Dispositionen des Publikums, doch bestimmte Aspekte des Postmodernismus haben sich auch als problematisch erwiesen. Er hat zwar Geschlecht, ethnische Herkunft und soziale Klasse thematisiert, war anfangs sogar richtig aufregend, macht nach kurzer Zeit jedoch alles nostalgisch, alles wird zu Objekten und ironisiert. Und das passt dann leider nur allzu gut zu den etablierten Machtstrukturen.“

Ein offensichtliches Problem sei doch auch, dass 80-jährige Improvisatoren immer noch als Avantgarde gelabelt werden, sagt der italienische Pianist Stefano Bollani – eine solche Zuordnung sollte jüngeren Musikern vorbehalten sein. Ihm zum Beispiel, obwohl er, mit Anfang 40, tonal spielt und die Free Music bei ihm (noch) keine Spuren hinterlassen hat. Beim JazzFest trat Bollani im Duo mit dem skandinavischen Akkordeonspieler Stian Carstensen auf, eine Premiere, die im Unterschied zu Bennink und Pascoal zwar gelang, jedoch auch deutlich machte, dass die Musiker sich mit ihren je eigenen, vertrauten und eingespielten Bands eigentlich am wohlsten fühlen. „Was in den Sechzigern Avantgarde war, kann heute bestenfalls noch Retro-Garde genannt werden“, sagt der Trompeter und Bollani-Mentor Enrico Rava, der am Sonntagabend das JazzFest im Haus der Festspiele mit einem sehr inspiriertem Konzert beschloss. Der 1939 in Triest geborene Musiker zog Ende der Sechziger für acht Jahre nach New York, wo er im Umfeld von Roswell Rudd und Carla Bley spielte. „Für mich gehören die Sounds der Sechziger unmittelbar zu den gesellschaftlichen Bedingungen jener Zeit“, sagt er heute. „Die Musiker kämpften parallel zur gesellschaftlichen Revolution für die Befreiung der Musik von überholten Strukturen, die Musik von Cecil Taylor, Don Cherry, Albert Ayler machte großen Sinn in jenen Tagen.“

Neben Ornette Coleman, der sein einziges Deutschlandkonzert dieses Jahr beim Enjoy Jazz Festival in Ludwigshafen gab, ist Cecil Taylor das Rollenmodell für kreative Improvisatoren geblieben: unberechenbar, unbestechlich, unnahbar. Er war schon Ende der Fünfziger bei der Ausdifferenzierung der Zugangsvoraussetzungen prägend und ist, wie man bei der TMM-Filmpremiere von „Cecil Talor: All The Notes“ und seinem anschließenden Livekonzert mit dem Schlagzeuger Tony Oxley sehr gut sehen konnte, auch mit 76 noch originär und wundervoll in jeder Sekunde. Kein Klischee wird bedient, kein Ton verschwendet. Das ist nicht mehr ganz so überwältigend kraftvoll wie in den vergangenen Jahren, dafür mitunter ruhig und lyrisch. Es war eine Musik, die von einer ungeahnten Sensibilität durchzogen war, ganz anders als die, die sonst aus den Tälern heraus Taylors Klangwellenberge stützt. Backstage flüstert er, kaum zu verstehen, Namen wie Clark Terry, Lester Young und Lena Horne und taucht tief ein in Geschichten aus einer Welt, die in seiner Musik nicht zitiert wird und doch mit jedem Ton präsent ist.