Die Troika verliert die Kontrolle

EUROKRISE Das Spardiktat schadet nicht nur Griechenland, sondern auch der Troika. Ihr Albtraum wird wahr: Sie wird noch 20 Jahre in Athen sitzen

Ulrike Herrmann

Foto: A. Losier

ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Kürzlich erschien ihr Buch „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ als aktualisiertes Taschenbuch bei Piper (Mai 2015).

Warum lügt ein deutscher Wirtschaftsminister? Oder ein EU-Kommissionspräsident? In der Politik wird die Wahrheit zwar oft ein wenig aufgehübscht, aber es kommt selten vor, dass Fakten erfunden werden.

Bei den Verhandlungen mit Griechenland waren krasse Lügen jedoch kein Tabu. Zunächst behaupteten die Repräsentanten der Eurozone immer wieder, man habe den Griechen „ein sehr großzügiges Angebot“ gemacht. Als diese vage Aussage nicht mehr ausreichte, schob EU-Kommissionschef Jean-Paul Juncker die Legende nach, man habe den Griechen Investitionen von 35 Milliarden Euro zugesagt. SPD-Chef Gabriel wiederum verbreitete die Mär, es sei über einen umfangreichen Schuldenschnitt für die Griechen gesprochen worden. Nichts davon findet sich in den Verhandlungspapieren wieder, die die EU-Kommission selbst veröffentlicht hat. Stattdessen wird den Griechen detailliert vorgeschrieben, wie sie zu sparen haben. Allein in den nächsten zwei Jahren sollen sie in ihrem Haushalt 8 Milliarden Euro kürzen.

Die Griechen haben gespart

Die Lügen offenbaren, dass das europäische Spitzenpersonal die Kontrolle verliert. Über sich selbst – und die Situation. In Griechenland geht es um weit mehr als Griechenland. Es stürzt gerade das gesamte Gedankengebäude der Troika ein. Ihre Austeritätspolitik ist so komplett gescheitert, dass es sich nicht mehr übertünchen lässt.

Die Troika verlangte, dass die Griechen sparen – und sie haben gespart. Seit 2010 haben sie ihre Staatsausgaben um 30 Prozent gekürzt. Das gab es noch nie in Friedenszeiten. Gleichzeitig wurde stets versprochen, dass diese Austerität ganz bestimmt zu Wachstum führt. Doch stattdessen schrumpfte die griechische Wirtschaft ebenfalls um knapp 30 Prozent. Auch das gab es noch nie in Friedenszeiten.

Rhetorisch versucht die Eurozone dieses Desaster zu kaschieren, indem sie den ältesten Trick der Menschheitsgeschichte anwendet: Das Opfer muss schuld sein, sonst wäre es ja nicht Opfer. Also erzählt man den Griechen, sie hätten eine „unverantwortliche Regierung“ (Schäuble), sie würden die „europäischen Werte“ nicht beachten (Merkel) und bräuchten weiterhin „Strukturreformen“ (noch einmal Merkel).

Was man zugeben muss: Die Griechen machen es der Troika leicht, sie zu Vollversagern zu stempeln. Denn es ist ja wahr, dass viele unfähige Beamte den griechischen Staatsapparat bevölkern, weil sie nach Parteiproporz eingestellt wurden. Genauso wahr ist, dass Syriza es nicht geschafft hat, die Reichen endlich zu besteuern.

Trotzdem ist es ein logischer Fehlschluss, zu unterstellen, dass die eigenen Argumente schon deswegen richtig sein müssen, weil das Gegenüber nicht perfekt ist. Um noch einmal auf die Reichen Griechenlands zurückzukommen, die die Fantasien in jeder deutschen Talkshow erregen: Der reichste Grieche namens Spiros Latsis besitzt geschätzte 6 Milliarden Euro. Das genügt nicht, um die griechischen Staatsschulden von 320 Milliarden Euro zurückzuzahlen. Symbolisch wäre es zwar wichtig gewesen, dass Syriza auch die Reichen heranzieht – an den fundamentalen Problemen hätte es nichts geändert.

Griechenland wird Kolonie

Die penetrante Rechthaberei nutzt der Troika jedoch nichts mehr. Jetzt schnappt die Falle zu: Die Eurozone wird zum Opfer ihrer eigenen Strategie. Der Sparkurs würgt nicht nur die griechische Wirtschaft ab – die Austeritätspolitik sorgt auch dafür, dass man die verarmten Griechen nicht wieder los wird. Die Troika hat Griechenland zu einer Euro-Kolonie gemacht, um die man sich nun permanent kümmern muss. Das ist ein Albtraum, nicht nur für die Griechen.

Sollten sie im Euro bleiben, wird ein drittes Hilfsprogramm nötig – und irgendwann ein viertes. Gleichzeitig müsste die Troika ständig nach Athen reisen, um die gewünschten Sparanstrengungen zu überwachen. Unterdessen würde die griechische Wirtschaft weiter schrumpfen, so dass durchaus denkbar wird, dass die Troika auch noch in zwanzig Jahren Dauergast in Athen ist, weil sich Griechenland nicht selbst finanzieren kann.

Es fehlt eine Exit-Strategie – und genau deswegen erscheint vielen Politikern in der Eurozone ein „Grexit“ so verlockend. Auch im Bundeskanzleramt gibt es starke Kräfte, die auf einen Grexit hoffen. Die Griechen los zu sein, ist so erwünscht, dass ihr Ausscheiden ruhig Geld kosten darf. Plötzlich werden knauserige Konservative sehr großzügig. Anders als viele Deutsche glauben, wäre ein Grexit nämlich richtig teuer. Zum einen wären weitere Hilfsmilliarden fällig, damit das Land nicht im Chaos versinkt und sich nötigste Importgüter wie Medikamente leisten kann. Zudem müsste man die bisherigen Kredite weitgehend abschreiben, denn die Griechen könnten mit einer schwachen Drachme niemals ihre Euro-Schulden bedienen. Deutschland würde mindestens 60 Milliarden Euro verlieren. Manche Schätzungen liegen auch deutlich höher.

Grexit ist unwahrscheinlich

Die Troika wendet den ältesten Trick an: Das Opfer muss schuld sein, sonst wäre es nicht Opfer

Doch so sehr viele Politiker einen Grexit herbeisehnen: Die Griechen dürften ihnen den Gefallen nicht tun, mit einem „Nein“ zu stimmen. Beim Referendum am Sonntag wird wahrscheinlich eine Mehrheit mit „Ja“ votieren, damit die Banken wieder öffnen und das Geld auf den Sparkonten gerettet ist.

Der Regierung Tsipras wird nichts anderes übrig bleiben, als zurückzutreten. In der Eurozone dürfte sich das Triumphgefühl, dass man die Linkssozialisten aus dem Amt katapultiert hat, jedoch schnell wieder legen. Denn der Regierungswechsel in Athen würde nichts am Grunddilemma ändern: Die Sparstrategie der Troika funktioniert einfach nicht.

Ökonomisch sowieso nicht, aber auch nicht institutionell. Man stelle sich vor, dass die Troika zwanzig Jahre in Griechenland sitzen muss, weil das Land nicht aus der Armutsfalle herausfindet. Kein Witz: Der IWF wäre zu bedauern. In Griechenland verliert er sein letztes Renommee. Schon jetzt wollen die meisten der 188 Mitgliedsländer, dass der IWF sich so schnell wie möglich aus Griechenland zurückzieht und die europäischen Wirrnisse hinter sich lässt.

Innerhalb der Troika wird der Druck steigen, dass für Griechenland eine Lösung gefunden werden muss, die realistisch ist. Das wird spannend. Das Referendum ist erst der Anfang, nicht das Ende. Ulrike Herrmann