Seismografen der Gegenwart

FESTIVAL I Zwei Uraufführungen beenden die Autorentheatertage im Deutschen Theater, von Sascha Hargesheimer und Nolte Decar. Ihre Texte machen neugierig und stellen große Forderungen an das Theater

Szene aus „Archiv der Erschöpfung“ von Sascha Hargesheimer, inszeniert von Friederike Heller Foto: Arno Declair

VON Mirja Gabathuler

Die „Lange Nacht der Autoren“ wird diesmal wirklich lang: Denn zum Abschluss der Autoren­theatertage am Samstag zeigt das Deutsche Theater gleich drei von vier Stücken in Uraufführungen. Ausgewählt wurden sie von einer Jury und in Kooperation mit dem Schauspielhaus Zürich und dem Burgtheater Wien inszeniert.

Begonnen hat das Festival dieses Jahr kampflustig: Peter Michalzik, Kritiker und Jurysprecher, feuerte in seiner Eröffnungsrede eine Handvoll Thesen zur gegenwärtigen Situation des Thea­ters­tücks ab. Sein Jury-Kollege Ulrich Matthes (miss-)verstand die Rede offensichtlich als Abgesang auf den Theatertext an sich. Dabei hatte Michalzik nur etwas polemisch darauf hingewiesen, dass der Zenit des einfachen Nachsprechens von Stücketext auf der Bühne überschritten ist.

Ein Befund, den die vier von der Jury ausgewählten Autoren (im „Best of“ der jungen Theatertexter fehlen leider Autorinnen) bereits selbst gemacht zu haben scheinen. In ihren Stücken tasten sie sich über eine ganze Bandbreite an Stilmitteln an neue Formen von Theatertext heran – und spielen bewusst damit, zu überreizen, was auf der Bühne umsetzbar ist.

Allgegenwart Kameraauge

Das wird besonders deutlich bei den beiden Stücken, die erst jetzt gegen Ende der Autorentheatertage zur Uraufführung kommen: Sascha Hargesheimers „Archiv der Erschöpfung“ und Nolte Decars „Der neue Himmel“. Ähnlich wie Wolfram Lotz in seiner „Rede zum unmöglichem Theater“ stellen sie die Frage, wie sich im Theater das Unmögliche mit dem Möglichen zusammenzudenken lässt.

„Der Neue Himmel“ des Autorenduos Nolte Decar, bestehend aus Jakob Nolte (Jahrgang 1988) und Michel Decar (Jahrgang 1987), ist etwa gegliedert durch Regieanweisungen, die eine Makroperspektive fordern, die dem Theater fremd ist: spektakuläre Annäherungen an die Erde über Satelliten aus dem All, Momentaufnahmen von ganzen Kontinenten.

Es sind Bilder der Überwachung, als würde ein Kameraauge rund um den Globus ständig an neue Orte heranzoomen, an denen sich bizarre kurze Szenen zwischen Figuren abspielen, die dann abrupt abreißen. Denn bis in die abgelegenen Winkel der Welt hagelt es Geschosse, Drohnen und Blindgänger: Eine arktische Forschungsstation fliegt ebenso in die Luft wie eine Toilette im Himalaja, auf der eben noch ein Filmstar thronte. In einem nordenglischen Städtchen spielt sich währenddessen zwischen einem Inspektor und einer Abendgesellschaft eine Szene wie aus einem Agathe-Christie-Krimi ab. Mit von der Partie: „ein Wesen namens Brigitte“, eine Killerin, die die Mechanik des Tötens per Knopfdruck in die Rohheit eines Tarantino-Massakers münden lässt.

Das Autorenduo Nolte Decar ist bereits zum zweiten Mal zu den Autorentheatertagen zu Gast, nach „Helmut Kohl läuft durch Bonn“ im letzten Jahr. „Der neue Himmel“, von Sebastian Kreyer für das Schauspielhaus Zürich inszeniert, ist das dritte gemeinsam verfasste Stück der beiden, die an der Universität der Künste in Berlin Szenisches Schreiben studierten. Auch Sascha Hargesheimer, 1982 geboren, studierte dort, und verfasste das prägnanteste Stück der Autoren­thea­tertage.

Tausend Gedanken

„Archiv der Erschöpfung“ ist eine Endzeitfantasie rund um einen Schriftsteller mit dem bezeichnenden Namen Anders, der Tausende von Seiten mit Gedanken gesammelt hat, und doch angesichts der Komplexität der Welt keine Aussage treffen kann. Als sein Bruder nach einer Schlägerei im Krankenhaus liegt, kehrt er zurück in die Stadt seiner Kindheit. Die befindet sich im Zustand des Zerfalls: Nach missglückten Erdgasbohrungen brechen Fahrbahnen auf und stürzen Gebäude ein. Schlingpflanzen bedecken die Stadt, die Seismografen aus der örtlichen Fabrik spielen verrückt und die skurrilen Arbeiter versammeln sich bei Mondlicht im örtlichen Kiosk, um die Ereignisse zu diskutieren.

Zerlaufende Bilder

Wie „zerlaufende wasserfarbene Gemälde“ greifen fantastische Szenerien bei Hargesheimer ineinander über, was durch die fehlende Interpunktion und eine assoziative, poetisch überformte Sprache begünstigt wird. Seitenlange Prosaeinschübe begleiten die dialogische Form des Theaterstücks. Gerade diese Offenheit des Textes macht neugierig auf die Inszenierung von Friederike Heller für das DT.

In der Langen Nacht der Autoren gesellt sich zu diesen beiden Stücken „Szenen der Freiheit“ des erst 23-jährigen Autors Jan Friedrich: Ein Reigen, in dem ein halbes Dutzend Mittzwanziger in Berlin in immer neuen Konstellation aufeinandertreffen und sich, mehr verbissen als lustvoll, austauschen, annähern und ausnutzen. Drei sehr unterschiedliche Theaterstücke werden also zum Abschluss der Autorentheatertage gezeigt, und damit drei Stücke, die sich eigenwillig der Dimension des Unmöglichen im Theater annähern.

„Archiv der Erschöpfung“: Uraufführung am 25. Juni 2015, 20 Uhr, Kammerspiele

Der Neue Himmel: Uraufführung am 26. Juni 2015, 19.30 Uhr, DT