Wir sind alle Praktikanten

Die Generation Praktikum ist nicht das Risiko einer kleinen Randsgruppe prekärer Akademiker. Sie ist Vorbote einer Globalisierung, die auch das ganze westliche Lebens- und Erwerbsmodell auf den Kopf stellen wird: Beruf, Geld und Liebe

VON MELANIE ZERAHN

Svenja rollt mit den Augen, "das Thema nervt". Sie kann die Frage nicht mehr hören. Die Frage nach ihrer Arbeit, ihrer Finanzierung, ihrem Lebensgefühl. Zu viel ist schon geschrieben worden. Die 32-jährige Berlinerin verkörpert als selbständige Texterin, Fotografin und Designerin die Generation Praktikum - aber sie will nicht mehr dazu gehören. Sie kann sich über Wasser halten und das bedeutet in ihrer Branche Erfolg. Kreative sind Patchwork-Biografien gewöhnt. Darüber reden: Nein. Die Generation Praktikum ist von sich selbst genervt.

Das mag so sein. Aber deswegen ist das Phänomen nicht verschwunden. Der Soziologe Hans-Peter Blossfeld warnt davor, das Problem Praktikum zu bagatellisieren. Seine These geht genau in die andere Richtung: Die Risiken der Generation Praktikum sind keine Randerscheinung, sondern ein Phänomen, das die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Der Bamberger Professor hat sich die Lebensverläufe des akademischen Prekariats in ganz Europa angesehen hat. Er sagt: Es geht um die Arbeits- und Lebensbedingungen im Zeitalter der Globalisierung.

Die Globalisierung produziere in den Industrienationen massive Unsicherheiten für alle Akteure. Die Arbeitgeber aber würden versuchen, diese Unsicherheit an die Arbeitnehmer weiterzugeben. "Diejenigen, die bereits im System 'drin', d. h. 'Insider' sind, haben Verträge, die sich nur schwer ändern lassen", sagt Blossfeld. "Die Flexibilisierung wird deshalb auf die jüngere Generation kanalisiert. Bei Berufsanfängern, den 'Outsidern', konzentrieren sich die Probleme, sie haben keine Berufserfahrung, keine Netzwerke und eine schlechte Konkurrenzsituation." Kurz gesagt heißt das: Wir sind alle Praktikanten - denn wir sind die Kinder der Globalisierung.

Betroffen sind nicht mehr nur die Arbeitsverhältnisse der Praktikanten. Auch befristete Verträge, Teilzeit, Werk- und Honorarverträge, schlecht bezahlte Volontariate und Traineestellen, selbständige Existenzgründungen und Gelegenheitsjobs gehören zu den Bedingungen der Globalisierungskinder. "Standen in den 70er-Jahren noch Wertefragen wie Wohlstand und Selbstverwirklichung im Vordergrund, so ist der Schlüssel heute Unsicherheit." Die Übergangsphase dauere in der Regel drei bis fünf Jahre, "danach finden die meisten ihren Platz". Verpasst man den Anschluss, besteht die Gefahr, den Weg in die Leistungsgesellschaft nicht mehr zu finden.

Längst hat das Globalisierungsrisiko auch etablierte Berufe erfasst. Bei den Juristen stieg die Arbeitslosenzahl von 2000 bis 2004 um fast das Doppelte auf knapp 10.000 Joblose. Die 30-jährige Juristin Juliane aus München schleppt Möbel in ihr Büro. Sie gehört zu denen, die sich lieber selbständig machen, als lange auf den Traumjob zu warten. "Die Mandanten kommen erst langsam zu mir", sagt sie. Leben kann die Rechtsanwältin nicht von ihrer Mini-Kanzlei. "Meine Eltern schießen immer wieder was dazu, damit ich die Rechnungen alle bezahlen kann."

Damit ist sie nicht allein: Laut "Soldan-Gründungsbarometer" können 31 Prozent der jungen Kanzleigründer ihren Lebensunterhalt lediglich mit Einschränkungen bestreiten. Mehr als die Hälfte muss auf Einnahmen zurückgreifen, die nicht aus ihrer Anwaltstätigkeit stammen. Ein Drittel der jungen Rechtsanwälte wählt den Weg in die Selbständigkeit, weitere 11 Prozent arbeiten zunächst als freie Mitarbeiter. Der Anteil der Gründer, die staatliche Fördermittel in Anspruch nehmen, hat sich seit 1997 verdreifacht. Über die Hälfte der Einzelanwälte üben ihre Anwaltstätigkeit in der eigenen Wohnung aus, Tendenz steigend.

Wer die konkrete Situation der westlichen Globalisierungskinder verstehen will, muss eine umfassende politische Analyse vornehmen. Dazu gehören, so Blossfeld, sowohl "Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik als auch die Familienpolitik". Denn die Unsicherheiten der jungen Generation machen an Ressortgrenzen nicht halt: Berufseinsteiger müssen Studienschulden oder künftig -gebühren abbezahlen - und sich gleichzeitig um die Altersvorsorge kümmern; gleichzeitig wird das Kindergeld auf 25 Jahre beschränkt. Die verunsicherten Hochschulabsolventen reagieren auf ihre Situation, indem sie kurzfristiger denken. Langfristig bindende Entscheidungen schieben sie auf, die Jugendphase wird verlängert und der Übergang in das Erwerbsleben verläuft chaotisch. Manche hüpfen von Praktikum zu Praktikum, andere bleiben länger im Bildungssystem. Eine Promotion als Warteschleife ist heute gang und gäbe.

Zunehmend entwickeln sich auch geschlechtsspezifische Strategien im Umgangs mit der Unsicherheit. Männer sind in immer geringerem Maße in der Lage, als "Ernährer" eine langfristige Einkommenssicherheit für den Haushalt zu übernehmen. Sie schieben die Familiengründung auf. Umgekehrt hängt der Wunsch hochqualifizierter Frauen, Kinder zu bekommen, davon ab, dass sie ihre Berufschancen durch Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahren können. "Die langfristige Selbstbindung an Kinder übernehmen die meisten erst mit gesichertem Status", beschreibt Blossfeld die Auswirkungen. "Frauen, die mehrere Jahre unsichere Jobs hinter sich haben, überlegen es sich zweimal, ob sie die einmal erreichte berufliche Stellung aufs Spiel setzen möchten." In Deutschland ist der Karriereknick mit Kind Realität. Junge Erwachsene verschieben den Kinderwunsch oder geben ihn sogar ganz auf.

In Italien und Spanien sorgte die "Generation Mille Euro", "die 1.000-Euro-Generation", in den letzten Jahren für Schlagzeilen. Dort, wo die "Insider-Outsider"-Märkte mit am stärksten ausgeprägt und befristete Verträge für Hochschulabsolventen an der Tagesordnung sind, machten junge Aktivisten mit ungewöhnlichen Mitteln auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Politisch herausgekommen ist nicht viel: Zwei junge, findige "Precari" haben einen Internet-Roman über das Leben der modernen Tagelöhner initiiert, ihn als Buch verlegt und die Filmrechte verkauft. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die in Frankreich für Empörung sorgte, wurde in Italien ohne größere Proteste in Gesetz gegossen. In Frankreich polterten die Praktikanten so lange durch die Straßen, bis sie eine geplante Regelung zu einer zweijährigen Probezeit für Berufseinsteiger verhindern konnten. Heute ist das Thema verebbt. In Brüssel diskutiert man jetzt das Modewort "Flexisecurity", das seinen Ursprung in den skandinavischen Ländern hat. Flexibilität und Sicherheit sind danach keine unvereinbaren Gegenpole, sondern in Balance zu bringen. Anders als in einigen Nachbarländern steht diese Diskussion hierzulande erst am Anfang.

Dass das Thema Generation Praktikum fachlich und politisch schwer einzuordnen ist, bemerkten auch die deutschen Parlamentarier. Zunächst landete das Thema beim Bildungsministerium, anschließend machte Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) das Thema zur Chefsache, inzwischen ist wieder Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) zuständig. Ihre Partei will erst einmal verlässliche Zahlen, bevor sie weiter debattiert. Bundeskanzlerin Merkel reagiert gereizt, wenn man sie zum Thema befragt.

Die Unsicherheit, mit dem Thema umzugehen, ist gerade bei den jungen Abgeordneten mit Händen zu greifen. "Wenn wir ehrlich sind, wissen wir überhaupt nicht, was wir mit der Generation Praktikum machen sollen", sagt Swen Schulz. Der SPD-Bundestagsabgeordnete ist wenigstens ehrlich. Andere schwanken zwischen der Entschlossenheit, etwas tun zu wollen - und der Unsicherheit, "mit gut gemeinten Gesetzen der Generation Praktikum die letzten Arbeitsplätze wegzunehmen". Die Formel, auf die sich die jungen Parlamentarier einigen könnten, ist wohl die des Grünen Kai Gehring: "Die Generation Praktikum ist kein Medienhype, sondern für Tausende junger Menschen prekäre Realität."

Ein kämpferischer Beitrag der Betroffenen bleibt aus. "Man hofft ja doch immer, dass man einen Job bekommt und sich die ganze Situation auszahlt", erwidert ein junger Berufseinsteiger auf die Frage, warum seine Generation denn nicht auf die Straße gehe und demonstriere. Die Betroffenen begreifen ihren eigenen Weg als individuell. Sich einzugestehen, dass sie Teil eines großen Ganzen sind, würde diesem Verständnis zuwiderlaufen. Wenn ihnen die Generation Praktikum auf die Nerven geht, dann, weil sie sich von ihr distanzieren wollen. Ihr Individualismus verbietet ihnen, eine andere Geschichte zu erzählen.

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