Boheme: Glück ohne Arbeit

Mensch und Maschine nähern sich an: Die digitale Boheme sieht sich an der Spitze einer Bewegung, die urbanen Penner versuchen sie aufzuhalten.

Noch undigital: Kafffeetrinker auf der Berliner Kastanienallee, 2004 Bild: dpa

Es war das Jahr 1996, als das manager-magazin vom neuen elektronischen Zeitalter - und namentlich von seinem Vorreiter Don Tapscott und seinem Bestseller "Die digitale Revolution" schwärmte. Die neuen Medien, prophezeit er, werden eine völlig neue Ökonomie hervorbringen, die die alten Wertschöpfungsketten durch -netze ersetzt und eine neue Unmittelbarkeit erlauben. Zudem werden in den Unternehmen Kommandohierarchien obsolet, wobei "zunehmend Kapital durch Geist geschaffen wird" - Kreativität, die nicht mehr von oben "beaufsichtigt und befohlen" wird. "In der modernen Wissensökonomie sind Lernen und Arbeiten hundertprozentig identische Aktivitäten", deswegen werden die neuen "Unternehmen die zukünftigen Universitäten sein". Tapscott erwähnt als Beispiel die Privathochschule von McDonalds, in der 2006 "eine Million Menschen lernten", er nennt sie die "Net-Generation".

Als "Avantgarde des Sozialraubs" bezeichnete dagegen der Kultursoziologe Thomas Wagner in der Jungen Welt die "digitale Boheme", wie die mit Handys und Coffee to go ausgerüsteten jungen kreativen "Laptopper" von den Berliner Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo genannt werden. Wagner führt deren "Kreativideologie" bzw. "Neoliberale Klassentheorie" auf die Thesen des US-Ökonomen Richard Florida zurück, der in seinem Bestseller "Der Aufstieg der kreativen Klasse" allen Ernstes einen "Boheme- und Schwulenindex" zur Messung des neuen Kreativ-Potenzials von Großstädten erfand. Danach würde Berlin ganz gut dastehen!

Die Chefredakteurin von Tagesspiegel-Online Mercedes Bunz sprach in bezug auf diese Kreativszene jedoch eher pessimistisch von "urbanen Pennern". Vielleicht, so meinte sie, muss alles noch viel schlimmer werden, damit diese Leute "endlich wieder eine Haltung einnehmen" und "in die Gänge" kommen. Kürzlich gab sie jedoch zu bedenken, dass die Problematik der "urbanen Penner" nun vom Aufschwung überlagert werde. Der alte Marxist André Gorz sieht in dieser Kreativszene, die feste Arbeitsstellen ablehnt und beweglich bleiben will, sehr viel optimistischer: Auch er geht von einem unaufhaltsamen Verschwinden der Dauerarbeitsplätze aus. Was danach käme? Die Generation X, wie bei Douglas Coupland, namenlose Helden des Prekären und Pioniere der Wiederaneignung von Zeit. Für diese Laptopper wurden schon ganze Städte zu "Hotspots" aufgerüstet. Laut Friebe/Lobo gehen damit zwei eng miteinander verbundene Phänomene einher: öffentliches Arbeiten und eine Art von kurzfristiger Gruppenbildung.

Doch wie soziologisch relevant ist diese Daueronline-Szene? Die von Wagner diskutierten Autoren gehören sämtlichst dazu, so dass einige Kritiker ihnen "Werbung in eigener Sache" vorwarfen. Andere, ebenfalls dazugehörige wie der 3-D-Designer Claudius Wachtmeister, sehen sich selbst und die anderen bald nur noch als etwas besser gestellte Heimarbeiter - an Webseiten sitzend statt an Webstühlen. Die Hard- und Software werde immer billiger, die Honorare dieser Selbständigen kontinuierlich sinken, weil immer mehr Leute ins Geschäft drängen. Demnach wächst die von Gorz bemühte "Generation X", die hier auch "Generation Golf" (Florian Illies) bzw. "Generation Berlin" (Heinz Bude) genannt wird. Sie breitet sich aus, und gleichzeitig verarmt sie, die sowieso äußerst prekär organisiert ist, immer mehr, zudem drängen die urbanen Gentryfication-Prozesse sie an den Rand. Für einige wenige sich dabei "profilierende" Glückliche mag es einen individuellen Aufstieg geben, die Masse dieser neuen "Klasse" wird jedoch heruntergedrückt. Sie sind bloße Konsumenten der Computerindustrie - nützliche "Werbe-Idioten", wie Jean Baudrillard sie nennt: die behüteten Kinder der Krise, wunderbare Medien-Idioten, europäische Yuppies. Aber auch sie schwanken zwischen Scheitern und Win-win-Situation.

Schon Michel Foucault riet "Glaube daran, dass das Produktive nicht sesshaft, sondern nomadisch ist!", woraus Gilles Deleuze und Félix Guattari eine ganze postmoderne "Nomadologie" machten. Mit dem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft bzw. von der Industrie- zur Informationsgesellschaft müssten sich alle "geschlossenen Systeme" (Krankenhäuser, Knäste, Fabriken, Schulen usw.) öffnen - uns drohe u. a. das "Lifelong Learning", was so schrecklich sei, dass wir uns noch nach der guten alten Disziplinargesellschaft zurücksehnen werden.

Während es der Zweiten Industriellen Revolution noch gelang, die vom Land verdrängten Menschenmassen für das Fabriksystem zu mobilisieren, wobei sie dann auch noch als Konsumenten in Erscheinung traten, geschieht nun mit der Dritten Industriellen Revolution das Gegenteil: Das Kapital demobilisiert sie. Gleichzeitig werden die Ende des 19. Jahrhunderts für sie geschaffenen "sozialen Netze" demontiert. Zwar gibt es noch immer Industrien, die auf der Suche nach Billig- und Willigarbeitskräften ihre Produktionsstätten in immer neue Elendsregionen verlagern, aber das besondere Kennzeichen der derzeitigen Globalisierung ist die allmähliche Abkopplung des Finanzkapitals von der Produktion. Investitionen in fiktive Werte sind profitabler geworden als solche in die Herstellung von Waren oder die Bereitstellung von Dienstleistungen.

Vor dem Beginn der Dritten Industriellen Revolution, auch digitale Revolution genannt, fanden zwischen 1946 und 1953 die so genannten "Macy-Konferenzen" statt, interdisziplinäre Konferenzen, auf denen sich die "technokratische Wissenschaftselite der USA", darunter viele Emigranten aus Europa, traf. Diskussionsgrundlage waren die Erkenntnisse aus der Waffenlenk-Systemforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informationswissenschaft. Zu den Teilnehmern gehörten u. a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead, als Konferenzsekretär fungierte zeitweilig Heinz von Foerster. Ihre Erkenntnis: Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind - also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen.

Als einer der ersten Gegner dieses bald immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassenden Paradigmenwechsels trat 1953 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Buch "Player Piano" auf, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassenden Anwendung beschrieb. Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial mehr schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite mit hohem IQ, vor allem "Ingenieure und Manager" (Problemlöser/Kreative), die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist - "Das höllische System" (so der deutsch Titel des Romans) -, weiter perfektioniert. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr "Aussteigern" unterstützt - und irgendwann schlagen sie los, d. h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an "ihren" geliebten Maschinen zu arbeiten.

Erst einmal werden jedoch Mensch und Maschine wesensgleich; ihre Austauschbarkeit war bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu besiegelt. Die "digitale Boheme" nun ist bemüht, sich an die Spitze dieser Entwicklung zu setzen bzw. dort zu halten, während die "urbanen Penner" wohl eher versucht sind, sich dem Widerstand dagegen anzuschließen. Beide schwanken - auch zwischen Selbständigkeit und Festanstellung. So legte z. B. ein junger Hacker auf der Hannoveraner "Expo 2000" einen Zentralrechner lahm - gleich anschließend bewarb er sich mit dieser kreativ-subversiven Tat bei Siemens um einen Job.

Da waren die "DDR-Bohemiens" noch anders drauf: Trotz Arbeitspflicht lehnten sie jede Karriere ab - und arbeiteten stattdessen meist als Heizer, Hausmeister oder Pförtner. Deswegen fand man z. B. unter technischen Gewerken in den Theatern oftmals "kreativere Köpfe als in der dramaturgischen Abteilung, und der kollektive IQ einer Friedhofsarbeiterbrigade war mitunter höher als die intellektuelle Leistung einer gesellschaftswissenschaftlichen Universitätsfachabteilung", heißt es im Katalog einer Ausstellung über die "Boheme in der DDR" des Deutschen Historischen Museums.

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