Fantasiewelten: Diana im Wunderland

Kent Nagano hat die bildende Künstlerin Diana Thater nach München eingeladen. Beim "Festival Plus" erschafft sie verwunschene Installationen.

Diana Thater hinterfragt Wirklichkeiten Bild: FREDRIK NILSEN

"Keine Zeit, keine Zeit!" Ein Satz, der Kinder an Hasen denken lässt. Denn sein Urheber ist ein fiktives Kaninchen, das Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt unter dem Pseudonym Lewis Carroll, im Drogennebel ersann: groß, weiß, ungewöhnlich kommunikativ. Neben seiner Besitzerin Alice stieg dieses Kaninchen zum Symbol für eine zeitlose, farbenfrohe, vielfältige Fantasiewelt auf: das Wunderland.

In ähnliche Fantasiewelten wird ab Ende Juni die amerikanische Video-Künstlerin Diana Thater das deutsche Publikum entführen - im Münchner Nationaltheater, in der Staatsoper und in der Pinakothek der Moderne. Festival Plus heißt das jährliche Sommer-Projekt von Kent Nagano, und in diesem Jahr hat sich der Dirigent zum Ziel gesetzt, Kunst und Musik, Licht und Klang zusammenzubringen. Keine leichte Aufgabe. Also wurde die Künstlerin Diana Thater aus Los Angeles als Kuratorin zu Hilfe geholt und gebeten, sechs ihrer jungen Kollegen mitzubringen.

Amerikanischer Ostküstenglamour trifft Münchner Klassizismusarchitektur: Wenige Monate später stakst Diana Thater auf hohen Keilabsätzen quer durchs Nationaltheater und mustert interessiert einige Originalentwürfe ihrer Protegés, die zu ihrem Empfang auf hohe Stellwände geklebt wurden. Bis Ende Juli wollen die Künstler die Pinakothek der Moderne und das Nationaltheater mit Wunderland-würdigen Gesamtkompositionen füllen, erklärt Thater, einzige Pflichtvorgabe ist das Motto "Drawling and stretching and fainting in coils". Entnommen ist dieser Satz Carrolls Hymne auf den ungebremsten Fluss der Gedanken, rund um die neugierige Alice. Die koreanische Komponistin Unsuk Chin setzte den Stoff jüngst in einer gleichnamigen Oper um, die Uraufführung bildet ein Highlight des Festivals. Weitere Konzerte sollen das visuelle Spektakel komplettieren - allen voran ein Abend mit dem Jazztrompeter und Echo-Gewinner Till Brönner.

Wenn Diana Thater das Gesamtkonzept von Festival Plus erklären soll, "Musik, Literatur, Kunst in Symbiose", gerät sie bisweilen ins Stocken. Ihr liegt es mehr, in wenigen Worten und Gesten ein ganzes Wunderland zu entwerfen; Alice, Carroll, die Interpretationen des Philosophen Gilles Deleuze, die liebt Diana Thater.

Die Verwandlung von Räumen inspiriert die Videokünstlerin schon seit ihren Anfängen. Indem sie Spiegel in ihre Arbeiten integriert, überwindet sie die natürlichen Begrenzungen ihrer Video-Projektionsflächen. "Alice im Wunderland" widmete sie bereits ein früheres Projekt. Die Schaffung von Paralleluniversen, das Hinterfragen der Wirklichkeit zieht sich als wiederkehrendes Motiv durch Thaters Werk. In ihren Filmen sieht man außergewöhnlich geformte Blüten, die - wie sich kurz darauf herausstellt - jedoch gar keine echten Blumen sind, sondern als zerstörerische Waffen eingesetzt werden. Man begegnet wilden Tieren, Schimpansen etwa oder Wölfen, die zunächst gezähmt scheinen und antrainierte Kunststückchen aufführen, nur um schließlich doch ihrer ureigenen, unberechenbaren Natur folgen. Manchmal bricht ein darunter gelegter Ton mit dem Bild, bisweilen stößt Thater den Betrachter auch lediglich in eine surreal schöne Wirklichkeit - etwa 1992 in die Gärten von Monet.

Nicht selten wird Diana Thater in einem Atemzug mit der Video-Revoluzzerin Pipilotti Rist genannt, obwohl Thaters Werk ungleich zartfühlender, widersprüchlicher erscheinen mag. Im gleichmäßigen Kunstlicht des Nationaltheaters gleicht ihr Teint dem einer Porzellanpuppe und überhaupt wirkt die Künstlerin auf den ersten Blick zerbrechlich wie eine französische Chansonnière. Um ihre Hüften schwingt ein knielanger Tulpenrock, den schlanken Hals schmückt eine Kette mit einem rechteckig geschliffenen Aquamarin. Doch gelegentlich verfällt Thater in ein dröhnendes Gelächter, ein gutes Stück zu laut, beinahe vulgär, und gerade deshalb so bestechend sinnlich aus dem Munde dieser zierlichen Person. Ähnlich ihre Installationen: Neugierig forschend sind die, manchmal selbstironisch, meist getragen von einer bittersüßen, eigenwilligen Schwere, immer hintersinnig. Bunte Lichter, dunkles, raumfüllendes Blau, Grün und Rot, davor die verzerrten Schatten der Betrachter- das ist die von Thater geschaffene Welt.

Wenn Thater im Juni erneut nach Deutschland kommen wird, soll das Lichtdesign von T. Kelly Mason das Nationaltheater erfüllen. Ein Bodenbelag des 26-jährigen Leonel Estevez wird dann das hohe Foyer zur "Kaninchenhöhle" (Thater) machen. Inspiriert vom Werk Carrolls hat Estevez von Hand Gedichte in einen Teppich gefräst. Thater: "Ich habe schon früher mit Estevez gearbeitet. Er ist jung, ja, aber - well, I trust him." Jill Spector, ebenfalls jung, ebenfalls von der amerikanischen Ostküste, wird den Königssaal mit Vorhängen und bunt kostümierten Skulpturen schmücken. Und Diana Thater selbst hat mit T. Kelly Mason ein Spiegelkabinett geschaffen, in das ein Musikfilm projiziert werden soll.

Farbenfroh und gestenreich schildert Thater die geplante Kunstwelt. Doch schließlich lässt sie die Arme hängen wie ein ermüdeter Schmetterling die Flügel, ganz locker aus dem Gelenk heraus. Sie zuppelt ein bisschen an ihren braunen Locken, dann schoppt sie die gerafften Ärmelenden ihrer Strickjacke nach oben und entblößt die zierlichen Handgelenke. Aufmerksam betrachtet Diana Thater nun das Ziffernblatt ihrer gigantischen Uhr, eine Minute lang, vielleicht auch zwei. Schweigend. Ein Lächeln noch. Keine Fragen mehr. Es ist Zeit.

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