Platon im Starlight-Express

Schwerer Stoff ganz leicht: Kinder-Unis werden in NRW immer beliebter. Unis und Fachhochschulen in neun Städten engagieren sich für kindgerechte Vermittlung von schwierigen Themen

AUS BOCHUMSANDRINA MAHLBERG

Auf den ersten Blick ist alles normal: Vor der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum stehen die Studenten im Kreis, unterhalten sich, pusten Zigarettenqualm in die Luft. Dann aber: Kinder, überall. Achtjährige, Zehnjährige, und was noch viel ungewohnter ist: Die Kids haben gleich Vorlesung an der philosophisch-theologischen Fakultät. Thema: Ethik. Daran verzweifeln zuweilen selbst die Großen.

In der Kinder-Uni aber ist das anders: Bis zu 200 Kinder im Alter von acht bis elf dürfen sich hier einmal wie Studenten fühlen, alle bekommen einen Studentenausweis wie die Großen und sind ganz gespannt, was der Titel der Vorlesung wohl zu bedeuten hat: „Gut sein ist schwerer als freihändig Fahrrad fahren“. Das hört sich zunächst komisch an in Kinderohren: Fahrrad fahren? Gut sein? Was hat das miteinander zu tun?

Dann kommt Wilfried Härle von der Universität Heidelberg. Der Wissenschaftler weiß, was für ein anspruchsvolles Publikum er hat. „Sinn und Zweck dieser Vorlesungsreihe ist das Nachdenken über Gut und Böse in relativ frühem Alter, damit die Gesellschaft besser funktionieren kann“, sagt er. Dass die Kinder-Uni immer beliebter wird, kann Härle da nur freuen. In neun NRW-Städten bieten Hoch- und Fachhochschulen fachspezifische Vorlesungsreihen an, die sich eigens an Kinder richten. „Das große Interesse der Eltern und Kinder zeigt, dass ein Studium heutzutage mehr gefragt ist als der Beruf des Feuerwehrmanns“, sagt Härle.

Aber wozu das alles? Man wolle die Kinder mit der Weiterbildung nach der Schule vertraut machen, sagt der Ethik-Lehrer. Die Kinder-Uni als Werbetrick für Universitäten, um Schülerinnen und Schüler schon früh an Studiengänge zu binden? Nicht ganz: „Die Universitäten und Fachhochschulen stehen unter zunehmendem Erfolgsdruck. Die Kinder-Uni ist fast immer ein Punkt, der positiv gewertet wird und der Uni somit zu einem besseren Ruf verhilft“, sagt Härle. Der Grundgedanke dieser Projekte sei aber die Vermittlung von schweren Themen in einfacher Form – und nicht die Werbung für Studiengänge.

An der Wand hinter dem Professor steht die Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Die Kinder sprechen den Satz im Chor. Härle: „Einfache Regeln wie die Goldene dienen Kindern als Orientierungshilfe im Leben.“ Gut und Böse, erklärt er weiter, sei aber oft nicht einfach zu unterscheiden.

Danach kommt die Geschichte des Mannes, der seine krebskranke Frau heilen und deshalb Medikamente stehlen will. Die Kleinen begreifen das Dilemma. „Ist das Stehlen eines Medikaments in diesem Moment gut oder böse?“, fragt Härle. Die Kleinen überlegen. „Ja“, antwortet ein Mädchen, denn sonst würde seine Frau ja sterben. Ein Junge erwidert, dass sei doch keine Lösung: Der Mann müsste ins Gefängnis und könne seiner Frau nicht mehr helfen.

Irgendwann ist die Vorlesung vorbei. Genug Stoff für heute. Aber die Kids sind begeistert: „Ich fand‘s schön, obwohl die Geschichte mit der kranken Frau und dem Mann, der Medikamente stehlen wollte, sehr traurig war“, sagt Kinderstudentin Gizem. Traurig soll hier allerdings niemand rausgehen. Dafür sorgt Jay. Der Tänzer war früher beim Musical Starlight-Express unter Vertrag. Als er ans Podium springt, schwingen seine schwarzen Rastazöpfe im Takt zum offiziellen Kinder-Uni-Song „Denken bringt den Kopf ins Rollen“. Der akademische Nachwuchs gerät in Bewegung. Aus Sicht der Kinder ist der Tanz der gelungenste Teil der Kinder-Uni. Kinderstudentin Greta steht ganz wibbelig da und sagt: „Der Tanz hat mir am meisten Spaß gemacht“. Platon sei dank.