Beispiel III: Istanbul: Fast ohne Hilfe vom Staat

In Istanbul wurden ohne öffentliche Mittel aus früheren Slumbewohnern Eigentümer von Stadtwohnungen.

Istanbul: Aus Slums wurden Wohnungen. Bild: dpa

ISTANBUL taz Die häufigste Frage über Istanbul ist: Wie viele Menschen leben in der Stadt am Bosporus? Niemand weiß es. Sicher ist: Es sind mehr als die zuletzt offiziell ermittelten 12 Millionen, aber ob es nun 14 oder gar 16 Millionen sind, kann niemand sagen. Denn erstens siedeln in den Vorstädten hunderttausend nicht registrierte Menschen. Zweitens werden es jeden Tag mehr. Noch 1964 hatte Istanbul nur rund eine Million Einwohner. Dann begann eine unvorstellbare Binnenmigration.

Der Grund für den anhaltenden Run auf die Stadt ist das Bevölkerungswachstum der Türkei insgesamt und die Verlockung der ökonomischen Dynamik, verglichen mit dem Rest des Landes. Neben der Hoffnung auf einen Schwarzmarktjob lockt auch die im Vergleich zu vielen anatolischen Dörfern bessere Versorgung. Seit etwa 10 Jahren ist die Infrastruktur der Stadt so weit ausgebaut worden, dass es auch in den armen Vierteln überall Wasser und Strom gibt. Die Ärmsten der Armen bekommen über eine staatliche sogenannte Grüne Karte kostenlose medizinische Versorgung, und für die Kinder gibt es in der Nähe, wenn auch überfüllt und schlecht ausgestattet, eine Schule.

Auch wer durch die armen Vorstädte fährt, wird feststellen, dass es kaum noch Slums im klassischen Sinne gibt. Die Häuser sind hässlich und schlecht gebaut, aber es sind Häuser. Die früheren "Gecekondus", die über Nacht erbauten Häuser, waren zwar illegal, standen aber in aller Regel auf staatlichem Land. Zumeist im Zuge von Wahlkämpfen erhielten die Slumbewohner dann nach und nach Eigentumstitel für das Grundstück, auf dem sie ihre Hütte gebaut hatten. Sobald sie diesen sogenannten Tapu hatten, kamen Baulöwen und boten ihnen an, auf dem Grund ihrer Hütte ein Haus mit vier oder gar sechs Wohnungen zu errichten. In dem Haus bekamen dann die Tapu-Besitzer zwei Wohnungen, die anderen konnte der Baulöwe verkaufen. So wurde Istanbul ohne öffentliche Mittel urbanisiert, der Staat stellte lediglich den Boden zur Verfügung. Die neuen Vorstädte haben die Stadt mittlerweile in ein Siedlungskonglomerat verwandelt, das sich über 120 Kilometer hinzieht.

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