Debatte: System gegen Würde

Um erfolgreicher zu werden, setzen immer mehr Unternehmen auf das Wundermittel Mitarbeiterevaluation. Mit den wirklichen Zuständen im Betrieb hat die wenig zu tun.

Unsere Arbeitswelten werden von einer gigantischen Welle der Erfassung in Bögen und Dateisystemen überrollt. Was einbricht, ist die Evaluierung, Quantifizierung und Taxierung aller produktiven Einheiten und insbesondere des einzelnen Menschen. Die Mode der Mitarbeiterevaluation betrifft alle Erwerbsfelder: industrielle Produktion genauso wie Dienstleistung und Behörden. Selbst Vereine im Gesundheits- und Sozialwesen gieren nach den neuen "management tools" (Instrumenten zur Steuerung eines Unternehmens).

Während die Auswirkungen für die Arbeitnehmer durchaus existenziell sind, äußert sich der Vorgang auch als breites kulturelles Phänomen: So werden Hochschulen im Zuge der Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen zur Taxierung ihrer Lehre genötigt. Evaluationsbögen gelten auch hier als Wundermittel, transparent und objektiv endlich all das in den Griff zu bekommen, was sich in Zahlen eigentlich nicht darstellen lässt.

Qualitätssicherung steht auf der Agenda der Manager, wenn es darum geht, für jeden Arbeitsplatz des Unternehmens einen verbindlichen Bewertungsbogen festzulegen. Von der Hilfskraft bis zur Geschäftsführung - jeder erhält ein seiner Tätigkeit angepasstes Evaluationsprofil. Meist geschieht dies zusammen mit den Betroffenen, und manchmal werden die Arbeitnehmer sogar aufgefordert, ihre Bewertungskriterien selbst aufzustellen.

Mittels Fragebogen sollen verschiedene "Qualitätsmerkmale" abgefragt werden, wie zum Beispiel Fachkompetenz, soziale Kompetenz, Selbstmanagement, Lernbereitschaft und weiteres. Darunter subsumieren sich dann spezifischere Qualitäten wie Kundenorientierung, Einfühlungsvermögen, Sauberkeit oder Motivation, die jeweils in drei Stufen bewertbar sind.

Es wird verkündet, diese Abfrage geschehe in Zukunft regelmäßig, meist im doppelten Verfahren, mittels Selbst- und Vorgesetzteneinschätzung. Und damit man auch Spaß daran hat, werden Weihnachtsgelder oder aber die Verlängerung des Arbeitsvertrages an die Ergebnisse geknüpft. Diese Entscheidung kann nun ein Computer treffen, denn mittels Auswertungsschlüssel erhält man auf dem Bogen rechts unten eine diskrete Zahl, beispielsweise zwischen null und zehn, diese multipliziert man mit hundert Euro und so weiter. Eine wesentliche Entlastung für die Personalstelle - auch in moralischer Hinsicht.

Zunächst kann es als wichtiger Vorteil der Evaluationsmethode gelten, Transparenz und Vergleichbarkeit quer durch alle Hierarchien zu ermöglichen. Alle Mitarbeiter des Unternehmens stehen vor dem gleichen Jüngsten Gericht und erhalten den Lohn für ihre guten und die Strafe für ihre bösen Taten.

Das Ganze liefert obendrein automatisiert Statistiken, die regelmäßig die hohe Motivation, Sauberkeit und Kundenorientierung aller Mitarbeiter beweisen. Für die Investor-Relations-Abteilung, die bei Aktiengesellschaften Kontakt zu den Aktionären oder auch Analysten pflegt, ist dies gut. Und allein deshalb muss das Ganze mit Qualität zu tun haben.

Wenn hier ein Zynismus Platz greift, so deshalb, weil an der Verwertbarkeit der Daten Zweifel bestehen müssen. Natürlich ist die Evaluation als Druckmittel auf den abhängig Angestellten wirksam. Aber versprochen wurde eigentlich etwas anderes: Transparenz und Gerechtigkeit, ein modernes "management tool" und "Qualitätsverbesserung".

Für den Unternehmer stellt sich ein Problem, das zwar in der Natur der Sache liegt, aber ausgeblendet bleiben muss: Spielt sich die Evaluation in den Vordergrund, gerät die gemeinschaftliche Unternehmung in den Hintergrund. Und da die Methodik selbst nicht kritisch befragt werden darf, schleicht sich eine systemische Rückkopplung ein, die nur abbildet, was das System darzustellen fähig ist, aber nie die wirklichen Zustände.

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat die Zerstückelung von Unternehmen in kleine operationable Einheiten analysiert: Komplexe Zusammenhänge können nicht erfasst werden - das Unternehmen wird innerlich zerstört. Denn eine Firma funktioniert nur, weil es Menschen gibt, die ihre Arbeit tun, so wie sie dies nun mal tun, individuell und schwer beschreibbar. Man kann durchaus die These wagen: das Funktionieren eines Wirtschaftsunternehmens verdankt sich ausschließlich dessen, was eben nicht verwaltet und verwirtschaftet ist.

Wenn wir bislang so viel über die Belange und Nöte des modernen Unternehmers im Kampf um internationale Märkte gesprochen haben, so nur, um jetzt dem eigentlich dunklen Phänomen Platz zu machen.

Obwohl Mitarbeiterevaluation eine leicht durchschaubare Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahme ist, obwohl sie eine Demütigung für jeden Betroffenen darstellt, sich selbst Bewertungskriterien zu geben oder diese mit gespielter Bereitwilligkeit zu akzeptieren, obwohl im Detail mit zweierlei Maß gemessen wird und Herrschaftsstrukturen abermals festgeschrieben werden: Es gibt überraschenderweise kaum Widerstand gegen diese Vorgänge.

Es ist weiterhin schwer einzusehen, warum man sich nicht daran stößt, Menschen mit einem messbaren Wert oder "Qualitätsmerkmalen" zu beschreiben. Bewertungssysteme sind Äquivalenzsysteme, sie schaffen einen Preis des Menschen: Greift dies nicht unsere - im Grundgesetz verbriefte - Würde an? Menschliche Würde, die, nach Kant, einem menschlichen Wert entschieden entgegensteht? Wie kann es zu dieser allgemeinen Akzeptanz von Evaluation kommen?

Vielleicht gibt es auch auf Seiten der Arbeitnehmer einen Wunsch, dem das Evaluieren entgegenkommt: der Wunsch nach Sicherheit. Bewertet wurde immer schon, doch was das neue System schafft, ist ein absoluter Wert. Eine Ziffer zwischen 0 und 10 beispielsweise. Es ist die direkteste symbolische Bestätigung, die man sich denken kann: "Ich bin 8,7." Dieses gemeinschaftlich aufgerichtete Faktum muss niemand vor anderen verteidigen, es gibt sich selbst seine mathematische Gültigkeit.

Indes findet eine bemerkenswerte Verschiebung von Kontrolle statt. Die Frage, ob man seinen Job normgerecht ausführt - und normgerecht heißt heute immer "besser als die Norm" -, wird als objektiv verinnerlicht. Jener diskussionswürdige Arbeitsethos, dem zu entsprechen wir seit Generationen einüben, wird erstmalig einer rationellen elektronischen Erfassung zugänglich gemacht und somit von einer beweglichen kulturellen Leistung in eine starre technokratische Faktizität überführt.

Eine Botschaft unserer Tage lautet: "Jeder Mensch ist potenziell nicht gut genug." Wer diese allgegenwärtige Aussage trifft, genau das verdunkelt uns die Evaluation.

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