Abtreibung: Die Unruhe bleibt

In seiner Studie "Soziologie der Abtreibung" zeigt der französische Soziologe Luc Boltanski, dass kein anderes Thema das Herz der Gesellschaft mehr bloßlegt.

Gegner und Befürworter von Abtreibung demonstrieren in Washington. Bild: dpa

Seit geraumer Zeit wird bei uns von Abtreibung selten, und wenn, dann nur im Tone der Abwiegelung, der Beruhigung gesprochen. Die Zeiten sind ja auch lange vorbei, wo alle Anliegen des Feminismus in der Reform des Paragrafen 218 zu kulminieren schienen. Dass es anders als in den USA bei uns keine militanten und einflussreichen Gruppen gibt, die heute den endlich gefundenen Kompromiss (rechtswidrig, aber straffrei nach Zwangsberatung) öffentlich angreifen, verstärkt den Eindruck der Normalisierung, trotz der Aufregung, die kurzfristig der Rückzug der katholischen Kirche aus der gesetzlichen Beratung hervorgerufen hat.

Die Stille, unterbrochen nur von den Mitteilungen des Statistischen Bundesamts, ist trügerisch. Hätten wir uns ein für alle Mal mit dem "freiwilligen Schwangerschaftsabbruch" arrangiert, würde das Bundesamt nicht immer wieder auf die sinkenden Zahlen hinweisen; auch nicht darauf, dass die meisten abtreibenden Frauen verheiratet sind und bereits Kinder geboren haben oder dass die Zahl der Minderjährigen gar nicht so hoch ist wie offenbar unausgesprochen immer befürchtet. Unterm Strich wird die beruhigende Botschaft verbreitet, dass die Reform des Paragrafen 218 nicht dazu geführt hat, selbstsüchtige Frauen in ihrer moralischen Indifferenz zu bestärken sowie mittelbar das allgemeine sittliche Niveau zu senken.

Tatsächlich sind die Zahlen gesunken, von 134.609 Abtreibungen im Jahr 2000 auf 119.710 im Jahr 2006. Hohe Zahlen in jedem Fall, könnte man meinen, wo doch allen verlässliche Verhütungsmittel zur Hand sind. Auch bedeutet der Rückgang nicht unbedingt etwas Gutes; denn die Abbrüche stehen in einem seit Jahren konstanten Verhältnis (100:18) zu den Geburten, die ja bekanntlich ebenfalls abnehmen.

Ins Grübeln kommt man auch, wenn man die deutsche Abbruchquote (Abbrüche pro 1.000 Frauen) mit der anderer Länder vergleicht. Mit 7,6 scheint sie "erfreulich" niedrig, die in Frankreich mit 16,2 "erschreckend" hoch. Aber werden unsere Nachbarn nicht auf der anderen Seite auch um ihre hohe Geburtenrate beneidet, die uns Frauenpolitiker so oft mit den französischen Krippen und ihrem unverquasten Mutterbild erklären?

Solche und viele andere Fragen kann beantworten, wer sich durch Luc Boltanskis Buch mit dem allzu engen Titel "Soziologie der Abtreibung" durchgekämpft hat. Die Mühe lohnt und wäre allen anzuraten, die sich berufen oder unberufen in jene ethischen Debatten mischen, die in den vergangenen Jahren die alten über den Paragrafen 218 ersetzt haben, etwa über PID, Stammzellenforschung oder Spätabtreibungen bei Behinderungen. Aber ebenso Frauen-, Familien- und Sozialpolitikern in der Rolle von "Little Miss Fix-it", deren praktischer Sinn für zündende Maßnahmen bei Boltanski eine förderliche Dämpfung durch Lektionen in moderner Anthropologie erfahren könnten.

Einerseits wundert man sich, dass vor Boltanski noch kein Forscher erkannt hat, dass eine Analyse der Abtreibung das Herz der Gesellschaft mehr bloßlegt als eine des Geldes, der Medien, des Fordismus oder der Globalisierung. Andererseits erklärt einem Boltanski genau, warum das so ist, ja sein muss. Abtreibung war und ist eine universale Praktik, die man nicht versteht, so seine Hauptthese, wenn man nur die Kontroversen der letzten 100, 150 Jahre untersucht. Sie folgt fast zwingend 1. aus der Unregierbarkeit der Sexualität, 2. der überbordenden Fruchtbarkeit des Lebens, nicht nur des tierischen, auch des menschlichen, und 3. aus der Summe von 1. und 2.: Im "Fleisch" wurden und werden unentwegt Menschen gezeugt, die durch kein "Wort" legitimiert sind und auch sonst, ob als Morula, Embryo, Fötus, ja als Neugeborenes oder unerwünschtes Kleinkind keine "Vorausbestätigung" vorweisen können.

Ist das der Fall - die Umstände können historisch und kulturell unendlich zwischen Bankerten hier, ehelichen Kindern mit falschem Geschlecht dort sowie schlicht Überzähligen und Unerwünschten variieren - findet das gezeugte, aber nicht ins Wort genommene Wesen keinen Zugang in die Gesellschaft. Oder nur einen halbherzigen: Man erinnere sich an die soziale und rechtliche Diskriminierung des unehelichen Kindes - und natürlich seiner sündigen Mutter - bis in die jüngste Zeit. Mit Boltanski erklären kann man auch die sonderbaren Babymorde in Serie, von denen neuerdings so oft berichtet wird. Waren es nicht immer wieder Kinder (und mittelbar ihre Mütter), die der sogenannte Partner der Mörderinnen nicht mit seinem "Wort" anerkennen und damit aus dem "Fleisch" zu einem Gesellschaftsmitglied machen wollte? Während die mörderischen Mütter mit ihren toten Babys, verstaut in Blumenkästen und Kühlschränken, lebten und umzogen, schließlich auch vor Gericht standen, wollten die Männer nie von nichts etwas gewusst haben - und kamen damit meistens durch.

In der universalen Praktik der Abtreibung überschneiden sich Soma und Psyche, Natur und Politik in primitiven wie in modernen Gesellschaften auf ewig unheimliche Weise. George Devereux hat 1955 eine vergleichende Studie über Abtreibungspraktiken bei "Naturvölkern" angestellt - man hat den Eindruck, dass Gefühle und befolgte Regeln bei jenen Frauen sich nicht von denen der Frauen unterscheiden, die heute nach der Legalisierung der Abtreibung, einem Triumph des Feminismus, eine Entscheidung treffen und sie vielleicht auch andern erklären. Abtreibung wird immer missbilligt, sie ist kein Gut, das erkämpft wurde und auf das deshalb irgendjemand stolz sein könnte. Wäre Abtreibung, wie von Gegnern behauptet, einfach Mord, warum gibt es dann von diesem Verbrechen nicht genauso wie von vergleichbaren anderen (Inzest, Ehebruch,Vergewaltigung) literarische, bildliche Darstellungen? Abtreibung war mal mehr, mal weniger strikt verboten - wurde aber immer großzügig toleriert. Männer, die die Gesetze machten, hatten auch das größte Interesse daran, sexuellen Wildwuchs und seine Folgen zu übersehen. Man redet nicht, man forscht aber auch nicht über Dinge, bei denen es klare Lösungen, eindeutige Voten nicht geben kann.

Wie oft wurde die Parole vom Persönlichen (Privaten), das politisch ist, in den vergangenen Jahren zitiert? Boltanski hat ein scheinbar erledigtes Thema wie die Abtreibung zum Auslöser einer Forschung gemacht, die gerade auch Feministinnen inspirieren könnte. Krass thematisiert die "Soziologie der Abtreibung" - von Babymorden zu schweigen - Geschlechterkonflikte, die in einer modernen Gesellschaft nicht bloß überdauern, sondern heute überhaupt erst Ausdruck gewinnen. Boltanskis Forschung wurde inspiriert von einer kleinen Empirie, die sich auf Gespräche mit 100 Ärzten und 40 Frauen beschränkt. Aber was der Typ daraus macht und an Ideen generiert!

Einesteils gibt Boltanski Sozialisationsforschern zu denken, die Elternentwürfe hinsichtlich eines Kindes vernachlässigen und nur auf die richtigen Erziehungstechniken achten. Andererseits ist ihm auch nicht entgangen, dass Frauen und Männer inzwischen anders zusammenfinden als vor 50 Jahren. Heute ist es möglich, die gewünschte Verschmelzung von Sperma und Ei wenige Stunden später zu erkennen und mit einem Namen zu versehen. In Fällen, die nicht so klar sind, kommt es früher (Abtreibung) oder später (Babymord) zu Katastrophen

Rührt die Dummheit der öffentlichen Debatte über einesteils ethische, andernteils familien- und geschlechterpolitische Fragen womöglich daher, dass vor Boltanski kein Wissenschaftler die Veränderungen des Privatlebens, der Familien- und Erziehungsverhältnisse und der Geschlechterbeziehungen im Ernst zu den großen Veränderungen der Gegenwart gezählt und sie seriöser Forschung gewürdigt hat? Ist das "Privatleben", sind all seine anthropologischen Induktionen in den letzten Jahrzehnten wirklich weniger wichtig als Globalisierung und Klimawandel? Boltanski macht viel aus der Intuition, dass jederzeit und überall die Abtreibung beunruhigt hat. So universal, so unvermeidlich sie zu sein scheint, so sehr beunruhigt sie alle - die Frommen, die Moralisten und Ethiker kein bisschen mehr als die Feministinnen, Frauen und andere Leute. Dass ein Forscher nicht Besserwisserei und Klarsicht vorführt, sondern den Mut hat, eine unheimliche, vieldeutige Unruhe zum Ausgangs- und Endpunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen - allein das verdient schon höchstes Lob und jeden Preis.

Abtreibung ist für die Frauen, die Boltanski gehört hat, die Konsequenz aus einem gescheiterten Projekt. Das kann ein Lebensentwurf, eine Beziehung, eine scharfe Selbstprüfung sein, vor der man versagt hat. Interessant ist vor allem, dass die abtreibenden Frauen grübeln - aber nicht über die moralische Korrektheit ihrer Entscheidung, sondern über ihr Leben. Man darf sich ihnen anschließen.

Luc Boltanski: "Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens". Aus dem Französischen von Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 541 Seiten, 29,80 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.