Post Punk: Gegen den Drei-Akkord-Imperativ

Poparchäologisch honorig und musikalisch famos: Mit einer Luxusausgabe epochalen Werks der Young Marble Giants beginnt die Kanonisierung des Post-Punks.

Die grobkörnighen 80er: Stuart Moxham, Philip Moxham, Alison Statton Bild: domino

Wer den Beginn des Post-Punks auf einen Augenblick reduzieren möchte, der könnte diesen wählen: Cardiff, 1979. Stuart Moxham steht mit den frisch formierten Young Marble Giants auf der Bühne und spielt einen Gitarrenlauf wie ein Magermodell: wunderschön, aber viel zu dünn. Das Publikum aber mags lieber üppig. Jemand ruft: „Play Rock n Roll!“ Und nach ein paar Chuck-Berry-Akkorden hält Moxham inne und sagt: „Das kannst du an jedem Abend überall in der Stadt hören. Wir spielen hier etwas ganz anderes.“ Etwas so anderes, dass man dafür keine eigene Kategorie fand, sondern nur die Negation einer alten: Post-Punk.

Und soviel in den letzten Monaten über den 30. Geburtstag des Punk geschrieben wurde, wie wenig war bislang zu lesen über die Zeit nach Punk, nach 1977. Als sich die ästhetische Formel etabliert und jeder Rebell einen Plattenvertrag hatte. Erst jetzt zieht Übersichtlichkeit und Kanonisierung ein: „Colossal Youth“, das einzige Album der Young Marble Giants, erfährt als Post-Punk-Monolith nun eine Luxusneuauflage, und in Amerika durchpflügt eine Samplerreihe namens „Messthetics“ die Unzahl winziger Privatveröffentlichungen aus den Jahren 77 bis 81.

Die Young Marble Giants bestehen damals aus Stuart Moxham, seinem Bruder Philip, dessen Freundin Alison Statton – und einer scharfen 180 °-Kurve. „Alle dort draußen machten so ziemlich das Gleiche“, erinnert sich Stuart Moxham in einem Interview an die Zeit um 1979, „also war meine Idee: Lass uns einfach in die entgegengesetzte Richtung gehen und schauen, was man sonst noch machen kann: ruhig sein etwa, minimalistisch.“ Das Ergebnis waren aufs nötigste reduzierte Songs, in ihrer larmoyanzlos-melancholischen Art von entwaffnender Schönheit.

Gerade einmal fünf Tage brauchte die Band, um „Colossal Youth“ aufzunehmen, eine der wenigen rundum perfekten Platten dieser Zeit. Kein Gramm Klang zu viel, alles feste musikalische Substanz. 15 Songs, so weit entfernt von Punk, wie man es zu dieser Zeit nur sein kann, melancholisch, ohne einen Hauch New-Romantic-Kitsch. Als die Platte Anfang 1980 in die Läden kommt, verkauft sie sich besser als Sicherheitsnadeln bei Vivienne Westwood.

Nun wird „Colossal Youth“ mit einer kolossalen Neuauflage geadelt: als luxuriöse Doppel-CD, ergänzt um Single- und Demotracks, abgerundet durch das obligatorische dicke Booklet. Ein Denkmal von einer Wiederveröffentlichung, wie es auf dem kleinen Hyped-To-Death-Label bislang lediglich den Homosexuals vergönnt war. Einer Band, von der kaum jemand je gehört hat und die doch ein paar der großartigsten Verquickungen aus mitsingbarem Powerpop und britischer Psychedelia aufgenommen haben. Das macht die Homosexuals zur prototypischen Band auf diesem Label, das sich durch den Bodensatz der Nach-Punk-Ära gräbt: Die wenigsten von ihnen hat man zuvor je gehört, doch die meisten von ihnen machen verblüffend großartige Musik.

Chuck Warner, der das Label betreibt, will nicht weniger, als die Geschichte umschreiben. „Viele Leute glauben, jede Band um 1978 hätte wie die Undertones oder die Clash geklungen“, sagt er. Dabei seien Gitarre-Bass-Schlagzeug-Bands damals in der Minderheit gewesen. „Mindestens die Hälfte der Bands hatten damals Bläser, Keyboards, ein Akkordeon, eine Geige – irgendein Instrument, das mit der Bilderbuchpunkidee von heute nichts zu tun hat.“

Jede zweite Band hatte keine Lust, dem Drei-Akkord-Imperativ zu gehorchen, und wollte lieber ihr eigenes Ding machen: Do It Yourself, musikalisch wie ökonomisch. „It was easy, it was cheap. GO AND DO IT!“, riefen die Desperate Bicycles, die vermutlich erste DIY-Band am Ende ihrer ersten Single. Kurz darauf brach der Damm.

An den entstandenen Sumpf wagte sich Jahre niemand mehr. „Punk ist sehr sorgfältig aufgearbeitet worden“, sagt Warner. Ein paar hundert Compilations haben jede noch so abgelegene Punkszene dokumentiert. „Aber Post-Punk ist noch immer unerforschtes Terrain.“ Das ändert sich mit „Messthetics“, seiner regional organisierten Samplerreihe über die Jahre 1977 bis 1981. Bislang erschienen zwei Teile zur Szene in London und ein dritter über die Midlands. Gut 20 weitere Teile hat Chuck Warner in Planung, dann wäre Großbritannien erst einmal abgedeckt. Die auf „Messthetics“ vertretenen Bands tragen Namen wie Collective Horizontal, Milkshake Melon, Dry Rib oder Digital Dinosaurs und sagen bestenfalls sozial verwahrlosten Sammlermaniacs etwas. Für alle anderen öffnet sich mit diesen CDs eine neue Welt.

Dabei sind Warners Exhumierungen nicht nur poparchäologisch honorig, sondern auch musikalisch famos. Die meisten der Messthetics-Bands hängen im stilistischen Niemandsland zwischen Punk und New Wave, Powerpop und Psychedelia. Und diese Mischungen lassen all die reglementierten Punkbands der Jahre zuvor erschreckend einfallslos klingen. Da sind zum Beispiel Twelve Cubic Feet, die den schüchternen Jingle-Jangle-Twee-Pop mit Frauengesang der C86-Generation schon vier Jahre früher spielten. Oder besagte Collective Horizontals, die 1979 so düster-verstörende Synthesizersongs spielten, dass Die Tödliche Doris sich hier ein bisschen was abgeschaut haben könnte. Oder Restricted Hours, die mit Bauhaus-Synthesizern und Handclaps zeigen, wie Gothic hätte Spaß machen können.

Das hört sich nicht nur abwechslungsreich an, das ist auch sehr kurzweilig. Ebenso wie Chuck Warners investigative Linernotes, die reichlich Querverbindung und Hintergründe offenbaren. So wird der demnächst erscheinende vierte „Messthetics“-Teil („South Wales D.I.Y. and the Z-Block label“) auch ein Stück der Boywonders enthalten, der Band von Stuart Moxham kleinem Bruder Andrew. Leicht könnte man den Fehler begehen und Chuck Warner einen Plattensammler mit missionarischem Eifer nennen. Dabei hat Warner eigentlich viel größere Absichten. „Ich sehe mich heute weniger als Sammler, sondern eher als Kurator, der die besten Stücke eines versunkenen Schatzes rettet und einem neuen Publikum präsentiert.“

Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Domino/ Rough Trade); „Messthetics“ über www.hyped2death.com

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