Filmfestival: Das Schwein tanzt

Pikante Ware für die junge Kulturindustrie: In Bologna zeigte das "Festival des wiedergefundenen Films", dass 1907 ein besonderes Jahr fürs Kino war.

Frivoles Bildmaterial? Thomas Edison erfand nicht nur dir Glühbrine - ondern auch den Tonfilm Bild: dpa

Die "Sonnenfinsternis bei Vollmond" von Georges Méliès ist ein zweiminütiger, mit Schablonen kolorierter Film. Er zeigt, wie sich das Mondgesicht einer Dame und das Sonnengesicht eines älteren Herrn begegnen: voller augenrollender und zungenspielender Begeisterung schieben sie sich übereinander. Solch eine scène à trucs (Trickszene) ist in ihrer erotischen Eindeutigkeit kein Einzelfall im frühen Kino - und "Sonnenfinsternis bei Vollmond" war nur eine der vielen Sternstunden des Programmschwerpunkts zum Jahr 1907, den das Filmfestival "Il Cinema ritrovato" im norditalienischen Bologna jetzt präsentiert hat.

Zusammengestellt hat die Reihe die Schweizer Filmwissenschaftlerin und Aficionada Mariann Lewinsky. Im Katalog schreibt sie, wie im Jahr 1907 neue Märkte für den Filmverleih erschlossen wurden, als die französische Firma Pathé die Filmproduktion systematisch industrialisierte. Von nun an war es den Kinos möglich, ihr Programm wöchentlich zu wechseln. Damit konnte man nun "hübsche Filme, neu, fest und klar" sehen, wie eine zeitgenössische Zeitschrift schrieb. Es gab immer mehr stationäre Kinos, die zusätzlich zu den Wanderkinos in den Stadtzentren auftauchten. So zeigt eine Karte der Innenstadt von Bologna aus dem Jahr 1907 allein zwölf Kino-Orte - einer davon ein Wanderkino, ein zweiter ein Sommerkino, ein dritter ein Konzertcafé.

Eines der festen Kinos, der Cinematografo Sempione, musste vorübergehend geschlossen werden, nachdem es ein "etwas zu pikantes Spektakel" gezeigt hatte. Wahrscheinlich waren das österreichische Saturn-Produktionen. Diese Gesellschaft des Fotografen Johann Sauter bot pikante Filme in ihrem Katalog international an - mit großem Erfolg. Während Pathés schlüpfrige Filme eher Damen in Dessous zeigten, gab es in Saturn-Filmen wie "Baden verboten", "Das eitle Stubenmädchen" oder "Eine schwierige Behandlung" richtige Nacktheit - bis die Polizei 1911 den Verleihstock konfiszierte.

Auch der erste Urheberrechtsprozess fand im Jahr 1907 statt: Die amerikanische Produktionsgesellschaft, die es gewagt hatte, "Ben Hur" ohne Genehmigung des Buchverlags zu verfilmen, wurde verurteilt. Dieses Urteil schuf einen Präzedenzfall. Danach war es nicht mehr so einfach, literarische Vorlagen zu adaptieren. Ein typisches Institutionalisierungssymptom.

Bis in die Siebziger galt dieses frühe Kino als primitiv. Es war 1978 eine Konferenz in Brighton, die den Paradigmenwechsel herbeiführte. Dort verabschiedete man sich von der Idee einer teleologisch, das heißt unter dem Blickwinkel des Fortschritts verlaufenden Filmgeschichte. ForscherInnen und Archivbetreuer begannen die ästhetische Eigenständigkeit dieses Kinos zu erkennen, das sich außerhalb der bürgerlichen Kultur entwickelt hatte und der spektakulären Vielfalt der Jahrmärkte mit anderen technischen Mitteln einen neuen Ausdruck gab. Man entdeckte, wie viele der Filme gar nicht schwarz-weiß gewesen waren, und man kümmerte sich um die Rekonstruktion der Farben - sei es der hand- oder schablonenkolorierten "Feerien" (ornamentaler, überbordender Zaubervorführungen) oder der oft monochrom eingefärbten Dramen und der nichtfiktionalen Filme.

Es war ein Kino der Attraktionen und Transformationen, episodisch, spektakulär, verspielt. Noch wendeten sich die Programme an alle - an Kinder, Männer und Frauen. Es sind "mit Zeichen vollgepackte Totaleinstellungen", so der Filmwissenschaftler Noël Burch, die ein perzeptives Chaos mit Charme in Kauf nehmen. Rasende Schwiegermütter werden von Männern gespielt und dralle Pagen von jungen Frauen. Diese übermütigen, gefallsüchtigen, kurzen Filme - oder eher "Bilder" - so zusammenzustellen, dass sie einander stützen, dass sie Bezüge herstellen, ohne dabei der Illusion "authentischer" Rekonstruktion anheimzufallen, ist möglich erst, seit kundig restauriertes Material in größerem Maße zur Verfügung steht.

Luis Buñuel erinnert sich in seiner Autobiografie "Mein letzter Seufzer" an seinen ersten Kinobesuch in einem Wanderkino im Jahr 1908: ein singendes Schwein, angezogen mit der Trikolore. "Buñuel ist ein Regisseur, in dessen Werk das Kino seiner Kindheit weiterlebt", schreibt Mariann Lewinsky im Katalog. "Seine wichtigsten Filme basieren auf demselben Prinzip diskontinuierlicher Assoziation wie die frühen Verfolgungsfilme und die meisten der scènes comiques und der scènes à trucs. Esel und Schafe tauchen in bourgeoisen Gemächern auf, und schwarzer Humor geht einher mit schockierender Grausamkeit." Bei ihren Recherchen stieß Lewinsky auf ein ausgezogenes, tanzendes Schwein, das wir in Bologna zu sehen bekamen: Es war etwas größer als die in Rüschen gekleidete Tänzerin, die ihm die Kleider vom Leib reißt, worauf es geniert seine Scham verdeckt. Dann tänzeln und steppen beide, das Schwein züngelt vor Freude, in einem Brautkleid wird es noch fröhlicher und bekommt am Schluss eine Nahaufnahme, in der wir sein Ohrenwackeln, Grinsen, Nasenwackeln und nochmaliges Zungenwedeln bewundern konnten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.