Pfadfinder: Allzeit bereit, immer bereit!

Vor 100 Jahren rief ein Brite die Pfadfinder ins Leben. Die deutsche Jugendbewegung war schneller - und entwickelte eine ganz eigene Dynamik.

Mit Kreditkarten muss hier keiner kommen: Pfadfinderlager Bild: dpa

"Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", nölte Tocotronic-Sänger Dirk von Lotzow vor Jahren. Tatsächlich? Die hippen Jungs aus Hamburg in kurzen Hosen, die Klampfe geschultert und dann auf "Fahrt" in die Lüneburger Heide zum Volksliedersingen? Unvorstellbar. Doch um das Jahr 1900 und folgend wären sie mit ihrem Habitus aus deutscher Innerlichkeit und bildungsbürgerlicher Intellektualität sowie dem Bewusstsein, einer kulturell-sozialen Avantgarde anzugehören, in der Lüneburger Heide genau richtig aufgestellt gewesen, und das bis hin zur Frisur: Die Wandervögel waren mal so etwas wie die absoluten Hipster der deutschen Jugend, die als eigener Lebensabschnitt erstmals in dieser Zeit gedacht und gelebt wurde: "Jugend" als Moratorium, als "Freiraum". Was wie bei der Urtruppe des großstädtischen "Steglitzer Wandervogels" zunächst als freigeistiges Adoleszenzvehikel (bildungs)bürgerlicher Jugend funktionierte - zurück zur Natur! -, weitete sich im späteren Verlauf auf alle sozialen Schichten aus, allerdings zum Preis der Vereinnahmung durch sämtliche nur denkbaren Institutionen: Kirchen, Parteien, Gewerkschaften - nicht mehr die originäre Bewegung, sondern die "Jugendpflege" stand nun im Vordergrund, und zwar unter der Fragestellung: Wie kann es uns gelingen, die Jugendlichen am besten in unserem Sinne zu beeinflussen?

Holger Meins war nicht nur Mitglied der ersten Generation der RAF, sondern zuvor auch bei den christlichen Pfadfindern. 1957 nahm er am internationalen Pfadfindertreffen "Indaba Moot" in Sutton Coldfield Park, England, teil. Er starb im Hungerstreik, mit dem er gegen die Haftbedingungen im Gefängnis Wittlich protestieren wollte.

Götz Alsmann, Musiker und Showmaster ("Zimmer frei"), war in seiner Jugend Pfadfinder und kann auch Gitarre spielen. Er favorisiert jedoch "westlich-dekadente" Jazzmusik.

Jim Morrison, Rocklegende (The Doors), war der Sohn eines Admirals und selbstverständlich Mitglied der Boyscouts. Später wurde er zum antiautoritären Rebellen - und zugleich romantisch-idealistischer Lyriker einer ganzen Generation.

Hillary Rodham Clinton war in jungen Jahren bei den Girlscouts und will mal werden, was Lisa Simpson wohl doch nie schafft: Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.

Günther Jauch, Showmaster: früher Pfadfinder, heute eine Art Verwalter des "Schlauen Buchs" vom Fähnlein Fieselschweif. Er hat immer die richtigen Antworten auf alle Fragen auf seinem Monitor.

Herbert Grönemeyer, Sänger ("Männer"!), hat mal ganz klein bei den Pfadfindern angefangen und möchte heute gleich die ganze Welt retten.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Held des deutschen Widerstands, war Mitglied der Bündischen Jugend und opferte aus Versehen sein Leben, um Hitler zu beseitigen. Eigentlich wollte er als Vertreter des (Geistes)adels Teil der neuen deutschen Regierung nach Hitler werden. MRE

Die Botschaft der Bibel oder das Parteiprogramm lässt sich eben besser eintrichtern, wenn man zugleich eine Portion Abenteuer und Lagerfeuer verabreicht - was im späteren Verlauf des Jahrhunderts sowohl von der NSDAP, die sämtliche Jugendbewegungen unter dem Dach der Hitlerjugend (zwangs)vereinigte, als auch von der SED begriffen wurde, die wiederum nach 1945 mit der FDJ an die Tradition der Arbeiterjugendbewegung aus den 20er- und 30er-Jahren anknüpfte. Mit dem Ergebnis, dass die letzten von Blauhemden geschlagenen Trommeln erst 1989 verstummten. Und das, obwohl mit ihren Trägern schon sehr lange keine "neue Zeit" mehr zog, im Gegenteil. Der oberste Pfadfinder - auch Erich Honecker war dereinst arbeiterjugendbewegt und später FDJ-Vorsitzender - war schon längst dem Tod geweiht. Und die Jugend der DDR wollte schon lange nicht mehr "Sag mir, wo du stehst" singen, sondern westlich-dekadente Rock- und Popmusik in der Disco hören, anstatt im Wald zu campieren.

Etwas später dran, dafür jedoch unter anderen Vorzeichen, war der Brite Robert Stephenson Smyth Baden-Powell, der nach einem dem kolonialen Militäreinsatz gewidmeten Leben im Jahr 1907 endlich die Zeit fand, seine lang gehegte Idee einer Jugendpfadfindertruppe umzusetzen. Vom 25. Juli bis zum 9. August gleichen Jahres veranstaltete er das erste Jugendzeltlager mit 22 Jungen aus allen sozialen Schichten. Bereits 1908 erschien sein Buch "Scouting for Boys", in dem er erstmals den bis heute populären pädagogischen Lehrgrundsatz learning by doing formulierte. Noch auf dem Totenbett formulierte der greise Jugendheld die bis heute wichtigsten Grundsätze der internationalen Pfadfinderbewegung: "Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt", und: "Der wahre Weg, um Glück zu erlangen, besteht darin, andere Menschen glücklich zu machen."

Jeden Tag eine gute Tat - eine angelsächsische Mixtur aus Idealismus und Commonsense. Allerdings standen die Camps des alten Haudegens Baden-Powell, der seine Erfahrungen unter anderem in Indien, Afghanistan und Südafrika gesammelt hatte, von Anfang an unter paramilitärischen Vorzeichen: Die jungen "Spurenleser" wurden in kleinen "Einheiten" formiert und in Uniformen gesteckt. Zum einen waren sie so in der Tat der Logik der sozialen Schichten entzogen, zum anderen wurden sie so auf das Hervorragendste auf den späteren Militärdienst vorbereitet.

Die berühmtesten boyscouts der Welt, die Disney-Protagonisten Tick, Trick und Track (englisch Huey, Dewey and Louie) vom Fähnlein Fieselschweif, bekannt aus den Donald Duck-Heften, sind denn auch für den geneigten Leser niemals individuell unterscheidbar, sondern gehen stets in ihrer Kleingruppe auf, die sich mit Hilfe des "Schlauen Buchs" durchs Leben schlägt: stets smart und im Vergleich zu ihrem chaotischen Onkel Donald fast schon altklug. Von wem, wann und wo die Geschwister gezeugt wurden, erfährt man übrigens nicht.

Die deutsche Jugendbewegung hatte zumindest in Fragen der Sexualität doch etwas mehr zu bieten: Innerhalb des Wandervogels und später der Bündischen Jugend experimentierten Jungmann und Jungfrau mit Freikörperkultur, freier Liebe und gleichgeschlechtlichem Sex - Letzterer gerne auch zwischen älterem Jugendführer und geführten Epheben. Die letzten noch existierenden Reste der Bündischen Jugend machen denn auch heute vor allem auf sich aufmerksam, wenn es mal wieder einen Missbrauchsfall zu beklagen gibt. Damals lief das Ganze unter dem Arbeitstitel pädagogischer Eros, was später unter der geistigen Anleitung des etwas verdrehten Denkers und Theoretikers der Jugendbewegung Hans Blüher gleich zu einem kompletten, männerbündischen Staatskonzept weitergedreht wurde - bis es von Heinrich Himmler persönlich abgewürgt wurde: Männerbund ja, Homosexualität nein.

Aus britischer Sicht der typische Wahnsinn der crazy Krauts, doch anschlussfähig zum Beispiel für den romantischen, modernitätskritischen Schriftsteller D. H. Lawrence, der seine Lady Chatterley die sexuelle Befreiung mit Dresdener Wandervögeln erfahren lies. Im Wald. Doch auch die avantgardistischen Strömungen der deutschen Jugendbewegung befanden sich stets in einer zum Teil befruchtenden, zum Teil vereinnahmenden Auseinandersetzung mit der damals sich entwickelnden Reformpädagogik - die trotz allem noch immer eine Pädagogik war.

Die deutsche Jugendbewegung hat mehrere Generationen von Deutschen nachhaltig geprägt, insbesondere die Eliten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft - auch wenn sich kaum noch jemand an den wandernden Bundespräsidenten Karl Carstens erinnern kann. Und wenn Rentneraktivistin Trude Unruh von den Grauen Panthern sich heute für die Kulturleistung des Volksmusikduos Marianne und Michael stark macht, dann liegt das daran, dass die heute alten Menschen noch eine Jugend erlebt haben, in der Volksmusik schwer angesagt war.

Der Geist der Jugendbewegung ist jedoch schon lange tot. Allerspätestens in den 60ern erklang überall jene Musik, die von den Nazis als "kulturbolschewistische Negermusik" und in der DDR als "westlich-dekadent" verschimpft wurde: Swing, Jazz, Rock, später Pop. Die passt so gar nicht zum Wandern - was auch die Kids von heute irgendwann merken, nachdem sie von ihren Eltern etwa bei der Pfadfinderschaft St. Georg angemeldet worden sind. Prompt treten sie wieder aus und treffen sich lieber mit ihren Altersgenossen an der Tankstelle.

Übrig geblieben ist jedoch das Konzept Jugend, das heute den ganzen Planeten beherrscht. Die Formationsprozesse sind längst anderen, hauptsächlich kapitalistisch-konsumistischen Grundsätzen unterworfen: Man trägt, hört und isst, was man ist. Mit kurzen Hosen, Gitarre und Erbswurst zum Abkochen ist es jedoch nicht mehr getan, man braucht im Prinzip eine Kreditkarte.

"Teil einer Bewegung" möchte die Jugend von heute eben doch ganz gerne sein, aber ohne eine Verpflichtung einzugehen, die über den Besuch bestimmter Konzerte und den Ankauf gewisser Kleidungstückte hinausgeht. Die Baden-Powells dieser Welt können derweil noch so schön auf der Flöte spielen - im Großen und Ganzen ziehen die kleinen Ratten lieber ihr individuelles Ding durch. Beruhigend.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.