Kolumne: Zeit ist Frist

Bergmann, Tabori, Antonioni, Mühe - in diesem Sommer sterben die Künstler, die mehr waren als Spielmänner des Zeitgeistes.

Was für ein Sterbesommer. Nicht nur das Klima und die Welt sind aus den Fugen - war sie je woanders? -, nein, jetzt auch schon der leise Takt des Todes. Am Tag, als Ingmar Bergman starb, 89 Jahre alt, durfte Michelangelo Antonioni da nicht sicher sein, im Schatten des anderen unbelangbar zu sein? Nur eine Weile noch, obwohl er doch sechs Jahre älter war. Gerade eben, Mitte Juli, kam "Blow Up" wieder in unsere Kinos, nicht weil sein Regisseur gestorben war, nein, im Gegenteil, weil er noch lebte und sein Film auch, und das war ein guter Gedanke. Und George Tabori, 93, der noch bis eben so wunderbar morbide, pansexuelle Stücke über 24 Stunden im Leben eines Greises schrieb - durfte er nicht annehmen, dass, solange er das tat, ihm nichts geschehen könne? Die Verabredung lautete: Solange ich schreibe, lebe ich! Und solange ich lebe, schreibe ich. Tabori hat den Pakt nicht gebrochen. Und Ulrich Mühe, etwas mehr als halb so alt wie die anderen. Man hätte ihm die Zeit der alten Weisen gewünscht, nicht jeder kann mit viel Zeit etwas anfangen. Er hätte es gekonnt, ganz sicher.

Zeit ist Frist, nicht Geld. Mühe wusste es auf der Bühne, genau wie sein Hamlet, die vielleicht größte Rolle, die er gespielt hat. Genau vor einem Jahr ist Mühes frühere Frau Jenny Gröllmann gestorben. An Krebs. Ihr verzweifelter Kampf darum, ihrem früheren Mann zu untersagen, sie öffentlich als Zuträgerin der Stasi bezeichnen zu dürfen, hat sie Lebenszeit gekostet. Im Dezember, als Ulrich Mühe den "Europäischen Filmpreis" für "Das Leben der Anderen" bekam, auf den Tag genau, soll er von seiner Krankheit erfahren haben. Das Schicksal hat das Gemüt und die Ökonomie einer Vorabendserie.

Schicksal ist natürlich ein bedenklich ungenaues Wort. Denn wir sind moderne Menschen, und sind es nicht zuletzt durch solche Bewusstseinsformer wie Tabori, Bergman und Antonioni geworden. Wir glauben nicht an das Schicksal und nicht an übersinnliche Reime. Gott wird schon wissen, was er tut, ist keine Erklärung mehr für uns, höchstens für den Papst. Aber wie das Irritierende formulieren? Der Zufall, dieser Dilettant, gefällt sich in der Rolle Gottes.

Alle Beweislast liegt beim Menschen. Vielleicht, da mögen all die Neu- und Altreligiösen recht haben, ist das zu viel für ihn. Die großen Alten des Kinos und des Theaters haben das minutiös beobachtet. Wenn alle Beweislast tatsächlich beim Menschen liegt, ist es eigentlich unmöglich, noch verheiratet zu sein, registrierte Bergman. Der verbale Exzess der Bergman-Filme war vorher vielleicht nur ein Selbstgespräch Gottes. Antonioni wiederum wusste, in welche Verlegenheit der Mensch gerät, wenn er anfängt, das Auge Gottes zu sein. Und sei es durch den einfachen Besitz einer Kamera. Oder den Beruf des Reporters.

Wahrscheinlich war Hamlet der erste moderne Mensch. Natürlich war er auch der erste Melancholiker, aber das gehört zusammen. Die großen Toten dieses Sommers waren auch große Melancholiker. Nur die schon bewusstlos Modernen wissen das nicht mehr und gründen inzwischen schon "Bündnisse gegen Depression". Wer angesichts solcher Nachrichten nicht depressiv wird, dem ist nicht zu helfen. Man erkennt die Zeiten eben daran, gegen und für wen und in wessen Namen sie Bündnisse schließen. "Bündnis 90". Das war noch eins im Zeichen der Zeit, in dem hamletschen Bewusstsein, dass Zeit Frist ist.

Im September 1989 fing Heiner Müller am Deutschen Theater in Ostberlin mit den Proben zu "Hamlet" an. Und du, sagte er zu Mühe, spielst den Hamlet. - Ich, antwortete Mühe fügsam und nickte, den Hamlet, gut, gut. Sie wussten beide nicht, was sie da sagten. Denn im September 1989 sah die DDR noch fast so aus wie immer, also lethargisch-graumäusig. Und alles wirkliche Leben fand woanders statt, zum Beispiel auf der Bühne. Am 24. März 1990 war Premiere, und da war schon alles gelaufen, die Revolution war zu Ende, die "Revolutionäre" Mühe und Müller hatten auf der schönsten Kundgebung ihres Lebens agitiert, am 4. November auf dem Alexanderplatz. Natürlich hatten sie das gesagt, was die Modernen immer sagen, also sinngemäß: Seid ihr selbst! Bestimmt euch selbst! - Aber wer schafft das? Nicht mal Hamlet hat es gekonnt.

Am Premierenabend im März, als Mühe begann, die größte Rolle seines Lebens zu spielen, war die DDR oder das, was aus ihr hätte werden können, schon abgewählt - die erste freie Volkskammerwahl in der Geschichte des Landes war noch keine Woche alt. Und Müller hatte die ganze Zeit entweder im Deutschen Theater oder in einem Strandliegestuhl in seiner grandios unaufgeräumten Wohnung gesessen und über Hamlet nachgedacht. Die Frage ist ja immer, überlegte Müller, wer ist der Geist? Wir würden das alles nicht mehr wissen, hätte damals nicht der Westberliner Regisseur Christoph Rüter gemerkt, dass hier nicht nur Theatergeschichte geschrieben wird, sondern etwas höchst Seltenes sich ereignete: die Zeit der Kunst und die Zeit der Politik fielen für einen Augenblick zusammen. Er hat einen sublimen Film über beides gemacht.

Der Geist ist natürlich der, der ganz zu Anfang zu Hamlet spricht. Also sein toter Vater. Also der Vater eines Zeitalters. Müller 1990: Also am Anfang als Stalin und am Ende als die Deutsche Bank. Der Geist ist die dämonische Macht eines Zeitalters. Dämonisch heißt immer irdisch, bedingt und endlich zu sein und sich doch an die Stelle des Unendlichen, des Unbedingten setzen zu können, mit der Aura des Überirdischen.

Aber ist die Deutsche Bank wirklich der Geist, wie Müller glaubte? Man hört jetzt öfter von "Führungskräften", die ihre "Führungskompetenz" nicht mehr nur beim Hüttenbauen im Wald und anderen "Outdoortrainings" optimieren. Outdoortraining! Das ganze Leben ist eins, und doch lässt sich nicht jeder zum Hüttenbauen in den Wald schicken und zahlt dafür viel Geld. Inzwischen wurden schon Führungsbefugte beobachtet, die sich Pferdeherden in brandenburgischen Reiterhöfen anschließen, um von ihnen die "sozialen Kompetenzen der Tiere zu lernen". Vergleichbare Trainings gibt es auch mit Wölfen und Adlern.

"Schmach und Gram, dass ich zur Welt/sie einzurichten kam." Erstaunlich, wer heute, kaum zur Welt gekommen, sie schon einzurichten beginnt. Und "Schmach und Gram" überlässt er dem "Bündnis gegen Depression". Und mit denen sollen wir künftig ganz allein bleiben? Aber doch ist es gut, dass im Herbst 1990 nicht Heiner Müller und Ulrich Mühe die Macht übernommen haben. Mühe, dieser Ausnahme-Hamlet, hat es später selbst gesagt mit seinem wissend-traurigen Lächeln. Eine Diktatur der Intellektuellen wäre wohl doch die übelste aller Herrschaftsformen. Und wer möchte schon von Antonioni, Bergman und Tabori beherrscht werden? Sie waren die letzten - oder die vorletzten - Intellektuellen als Künstler. Noch keine bloßen Spielmänner des Zeitgeistes. Fast möchte man sagen, sie waren die letzten Weisen. Der alte weise Mann ist ein Urbild aller Kulturen. Warum es dem Papst überlassen? Solche säkularen Päpste sind viel besser. Es werden weniger.

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