Alterspyramide: Babywindeln zu Penistaschen

Früher hat die Paul Hartmann AG Babywindeln produziert. Heute laufen Windeln für Erwachsene vom Band. Schuld ist die Demografie.

Inkontinenzhöschen am laufenden Band. Bild: dpa

BRÜCK taz Der Lärm ist ohrenbetäubend. Dieter Grüder pult kleine gelbe Stöpsel aus der Hosentasche und drückt sie sich fest in die Gehörgänge. Dann marschiert er los, mit straffem Schritt, hinein in die Halle, die so weitläufig und so hoch ist wie ein Flughafenhangar. Vorbei an ratternden Maschinen, Pappkartons, Förderbändern, dorthin, wo die rote Lampe blinkt und die Hupe blökt. Da steckt das Problem. Grüder ist in Brück Betriebschef und Fertigungsleiter, er sieht sofort, was los ist: Ein Transportlaufband ist ausgefallen. Kartons schieben sich zusammen, sie schubsen sich übereinander, die Produktion geht ja vorne weiter.

In zehn Jahren werden erstmals die über 40-Jährigen die Mehrheit in Europa stellen. In Deutschland werden sie laut Internationaler Arbeitsorganisation dann 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Für die Silver Economy fordert Familienministerin von der Leyen deshalb neue Produkte und Dienstleistungen. Schon heute verfügten die über 60-Jährigen über eine Kaufkraft von 316 Milliarden Euro - ein Drittel des privaten Konsums. Bis 2050 wird dieser Anteil auf 386 Milliarden Euro steigen - 41 Prozent der Gesamtausgaben. RTR

Grüder ist hier der Einzige, der Hemd, Krawatte und Handy trägt. Die anderen, die Arbeiter, stecken in Monteursanzügen, die auf der Brust einen weißblauen Schriftzug haben: Hartmann. So dezent, wie das Firmensignet daherkommt, so diskret werden die Produkte verwendet, die in diesem Industriegebiet im brandenburgischen Brück vom Band gehen: Inkontinenzhöschen, Bettnässerunterlagen, Binden, Einlagen, Windeln.

So ging es bei der Paul Hartmann AG nicht immer zu. Das Unternehmen, das seinen Stammsitz im baden-württembergischen Heidenheim hat, ist damit reich geworden, dass die 8.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Generationen von Babypopos trocken gehalten haben. Hinter dem Produkt Fixies steckte nicht nur eine Wegwerfwindel, sondern ein ungekanntes Maß an Komfort. Eltern brauchten keine stinkenden und verklebten Stofflappen mehr zu kochen, die volle Fixies kam einfach in den Müll. Das Höschen hat einen Klettverschluss, zum Schauen für zwischendurch, ob schon was drin ist. Mit der großartigen Saugfähigkeit einer Fixies machte Paul Hartmann bis vor wenigen Jahren erfolgreich Werbung im Fernsehen.

Heute ist das anders, Fixies gibt es hier nicht mehr. Das Unternehmen hat die Marke an den französischen Hersteller Novacare abgestoßen, Hartmann produziert jetzt nur noch für Alte und Kranke. Schuld daran ist die Demografie. Seit die Deutschen immer weniger Kinder kriegen, zugleich aber immer später sterben, ist der Markt für Seniorenprodukte weitaus lukrativer geworden. Vielerorts haben Rentner mehr Geld als junge Eltern. Das Bundesfamilienministerium hat errechnet, dass die über 65-Jährigen jeden Monat zusammen 19 Milliarden Euro ausgeben. Für Reisen, Essen, Gesundheit. Schätzungen zufolge werden die Menschen im Jahr 2040 doppelt so viel Geld für Hygiene und Pflege hinlegen wie derzeit.

Irgendwas läuft immer aus

Schon heute sind die Alten fitter, aktiver und mobiler als vor dreißig Jahren, sie fordern das Leben noch einmal heraus. Verschleißerscheinungen haben sie trotzdem. Männer werden an der Prostata operiert und sind danach häufig inkontinent, Frauen wegen der Geburten. Da geht beim Lachen und Niesen nicht nur ein Tropfen Urin in die Hose, sondern ein ganzer Schwall, der Schließmuskel ist auch nicht mehr der Jüngste. Irgendwo läuft immer etwas aus.

Dieter Grüder eilt zum Computer neben der Maschine. Er tippt auf der Tastatur herum, schiebt die Maus hin und her, klickt hier, klickt dort, blickt hoch und pustet erleichtert aus. Läuft wieder. Der 53-Jährige ist Ingenieur für Technologie, vor ihm türmen sich Kartons, und es schieben sich immer neue dahinter. "Die müssen jetzt mit der Hand weggeräumt werden", sagt er, nimmt gleich drei auf einmal und trägt sie auf eine Palette. Auf der braunen Verpackung steht Molimed, drin sind Inkontinenzeinlagen. Die gibt es in Mini, Midi und Maxi, für Frauen und für Männer. Außerdem bietet Hartmann den Herren eine sogenannte Penistasche an, klein und weich, einfach zum Drüberstülpen.

Dieter Grüder reißt eine Packung Molimed Midi auf. Er holt eine Vorlage heraus, die so prall ist wie eine kleine Babywindel, klappt sie auf und fährt mit der flachen Hand über die Saugfläche. "Das Flies ist weich und nimmt jede Menge Flüssigkeit auf", sagt er. "Es läuft nichts aus, es gibt keine Rücknässung - ein hoher Tragekomfort." Das hat Paul Hartmann ja schon bei den Fixies gut gemacht.

"Der Anspruch an eine Erwachsenenwindel ist aber um einiges höher", sagt Christian Wicenec. "Sie darf nicht reißen, nicht verrutschen, schon gar nicht rascheln. Sie muss so dezent sein, als wäre sie gar nicht da." Der promovierte Chemiker ist ein wichtiger Mann bei Hartmann. Mit zwei weiteren Mitarbeitern gehört er in Heidenheim zur "Abteilung für Umfeldforschung". Die hat der Konzern vor drei Jahren gebildet, seither beobachten die Wissenschaftler die Demografiekurve und den Markt in Deutschland und Europa, sie machen Trends aus und fällen Entscheidungen.

Die erste war: Weg mit den Fixies und Konzentration auf Inkontinenzprodukte, OP-Material und Pflegemittel. Damit hat das Unternehmen nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Wie viele Erwachsenenwindeln, Inkontinenzhöschen und Bettfliese das genau sind, will Christian Wicenec nicht verraten. "Die Konkurrenz schläft nicht", sagt er. Produktpiraterie gibt es selbst bei Still- und Slipeinlagen.

"Einfach in die Hose machen"

Das Thema Urinieren scheint ältere Frauen und Männer überaus stark zu beschäftigen, im Internet hat sich dazu schon eine Bloggerszene gefunden. "Da ich den ganzen Tag außer Haus bin, ist eine Windel zu tragen mit Abstand angenehmer, als immer wieder Toiletten zu suchen", schreibt da ein User, "ganz simpel in die Hose zu machen, ist am einfachsten und bequemsten." Ein anderer rät: "Vor allem beim Autofahren tragen, wenn man im Stau steht." Und ein dritter fragt: "Welche Windeln werden von euch bevorzugt?"

Davon hat Dieter Grüder aus Brück noch nie gehört. Er lächelt gequält, er ist schließlich Ingenieur, kein Marktforscher. Stattdessen hält er Gregor Meerkatz eine Betteinlage hin, die beiden Männer betrachten konzentriert die Oberfläche, sie halten sie in die Luft, gestikulieren und schreien sich etwas zu. Qualitätskontrolle.

Meerkatz, der große kräftige Mann, ist von Anfang an bei Hartmann in Brück. Hier hat er gelernt, Industriemechaniker, hier hat er seinen Berufseinstieg erlebt, hier will er alt werden. Er ist erst 27 - kein typischer Hartmann-Mitarbeiter, zumindest nicht in dieser Niederlassung. Die meisten hier sind Mitte vierzig und älter. Sie haben die Firma zusammen mit Grüder, ihrem Chef, vor zehn Jahren auf der grünen Wiese hochgezogen. Sie haben auf die erste Windel aus Brück angestoßen. Sie setzen darauf, bis zur Rente bleiben zu können. "Die Fluktuation ist niedrig", sagt Grüder.

Wie die Gesellschaft altert auch die Hartmann-Belegschaft. "Bald werden wir viele Mitarbeiter über 60 haben", sagt Christian Wicenec. Auch er wird unter ihnen sein, und auch Dieter Grüder. Der Zukunftsforscher weiß besser als jeder andere hier, was das bedeutet: Rücken, Beine, Hüften, Augen - alles verschleißt, und zwar bei jedem anders. Aber die Arbeit bleibt die gleiche. Was kann ein Unternehmen da tun?

Firmenleitung und Forschungsabteilung hatten eine Idee: ein Demografieprojekt im eigenen Haus. Vor wenigen Wochen hat man eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, wie es wem in welchem Alter geht. Ob man sich mit 50 noch gut bücken kann oder ob es mit 45 schon nicht mehr geht. Wie lange kann jemand ohne Probleme stehen? Und wie viel Staub verträgt einer?

Die Firma als Forschungsfeld

Die Mitarbeiterbefragung ist wiederentdecktes Instrument der Personalführung. Seit zwei Jahren gibt es INQA, die bundesweite Initiative für neue Qualität der Arbeit, und das Demografie-Netzwerk, zu dem sich unter dem Dach des Bundesverbandes der deutschen Industrie zwei Dutzend Unternehmen zusammengeschlossen haben. Ziel ist es, rauszukriegen, wie sich die Arbeiter im Betrieb fühlen und wie die Arbeitswelt in zwanzig, dreißig Jahren aussehen könnte. "Ein Unternehmen muss flexibel bleiben und für seine Mitarbeiter sorgen", sagt Wicenec, "sonst kann es langfristig nicht erfolgreich sein."

Im Jahr 2025 wird ein Viertel der Deutschen mindestens 65 sein. Die meisten müssen dann noch zwei Jahre am Schreibtisch oder an der Kasse sitzen, Kisten schleppen oder am Band stehen. Oder, wie bei Hartmann, große Maschinen bedienen. Geht das denn? "Wird man sehen", sagt Dieter Grüder. Manchmal reiche es ja schon, wenn ein Hebel niedriger angebracht wird oder ein Stuhl besser rollt.

Carola Hermann ist eigentlich zufrieden mit ihrer Arbeit in Brück. Sie verdient gut, sagt sie, der Chef ist super, die Kollegen auch. Dafür fährt sie jeden Tag die fünfzig Kilometer aus Wittenberg in Sachsen-Anhalt her. Mit zwei weiteren Frauen arbeitet sie in der Halle, in der Stilleinlagen vom Band klappen. Eine Kollegin sitzt auf einem Hocker an der Maschine und sammelt die runden BH-Schoner in die Verpackung. Eine andere steht am Band und klebt die schmalen Kartons zu. Die nächste läuft herum und stapelt sie für die Auslieferung.

Die drei arbeiten im Rotationsprinzip, im Laufe der Schicht wechseln sie die Plätze, eine darf immer mal sitzen. Das ist das Ergebnis einer früheren Mitarbeiterbefragung. Früher haben alle drei gestanden, den ganzen Tag. Anstrengend bleibt es heute trotzdem, sagt Carola Hermann: "Der Staub, der Krach, die Wärme." Wird sie es bis zur Rente schaffen? Sie schüttelt den Kopf: "Ich glaube nicht." Carola Hermann ist 48.

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