Kommentar: Öffnen lernen

Europa hat sich gegen den Ansturm afrikanischer Flüchtlinge erfolgreich abgeschottet. Das ist die größte Menschenrechts-Verletzung der EU in der Gegenwart.

Die Festung steht. Etwa 120.000 Afrikaner versuchen jährlich, illegal nach Europa einzureisen, aber nur rund 14.000 haben dieses Jahr die gefährliche Seereise geschafft. Das sind etwa halb so viele wie im gleichen Zeitraum vergangenen Jahres. Wer durchkommt, wird meist in abgeschottete Hochsicherheitslager gesteckt und wieder deportiert. Um die Masseneinwanderung aus dem armen Nachbarkontinent abzuwehren, hat sich Europa auf den Kanaren, auf Lampedusa und Malta, in den Exklaven Ceuta und Melilla sowie auf Flughäfen mit Direktverbindungen nach Afrika längst ein kleines Guantánamo-System eingerichtet, in dem Migrationsverdächtige verschwinden.

Zehntausende Migranten bleiben in Nordafrika hängen, in den Slums von Casablanca und Algier, in den Tagelöhner-Arbeitsmärkten von Tripolis und Tanger oder einfach irgendwo in der Wüste. Aus der afrikanischen Masseneinwanderung nach Europa ist so eine Masseneinwanderung in den Maghreb geworden. Das wollen weder die Migranten noch ihre Gastländer, und es führt zu alltäglichen Erniedrigungen, rassistischen und polizeilichen Übergriffen.

Dass allein Marokko dieses Jahr schon 80.000 illegale afrikanische Einwanderer aufgegriffen hat, zeigt das Ausmaß dieses Problems. Dabei ist es nur eine Konsequenz der erfolgreichen Abschottung Europas. Die EU hat die Bekämpfung der illegalen Migration exportiert in einen Gürtel von Ländern jenseits des Mittelmeers, die selbst erhebliche soziale und politische Probleme haben und deren junge Generation selbst immer hartnäckiger an die Tore Europas klopft.

Wie lange ist diese Politik noch tragbar? Europäische Regierungen entwerfen zwar Detailpläne für den CO2-Ausstoß des Jahres 2050 und grübeln über das Rentenniveau ihrer Enkelkinder, aber sie verschließen die Augen vor der größten Verletzung der Menschenrechte seitens der EU in der Gegenwart: vor tausenden Leichen, die an unseren Außengrenzen auf hoher See treiben, und zehntausenden Armutsflüchtlingen, die irgendwo abgeladen werden, weil das reiche Europa sie nicht will. Wie man Grenzen dicht macht, weiß Europa offenbar. Jetzt müssen die Europäer lernen, sie wieder zu öffnen.

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