Vorabdruck Naomi Klein: Die Freiheit, die sie meinen

Mit dem US-Einmarsch 2003 sollte der Irak als Modell für die Region aufgebaut werden. Als Vorbild diente Chile, das der Putsch 1973 zum US-Muster für Lateinamerika machte.

Der Öffentlichkeit wurde die Invasion in den Irak als Reaktion auf eine Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen verkauft. Warum? Weil die Sorge um Massenvernichtungswaffen, wie Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz erklärte, das Einzige sei, "bei der alle derselben Meinung sind". Mit anderen Worten: Zur Rechtfertigung bildeten die Massenvernichtungswaffen den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die seltener genannte Begründung, die von den intellektuellsten Verfechtern des Krieges bevorzugt wurde, war hingegen die Theorie des "Modells".

Die Anhänger dieser Theorie vertraten die Ansicht, der Terrorismus habe seinen Ursprung in zahlreichen Ländern der arabischen und muslimischen Welt: Die Flugzeugentführer vom 11. September stammten aus Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus dem Libanon; der Iran unterstütze die Hisbollah; Syrien biete den Führern der Hamas Unterschlupf; der Irak schicke den Familien palästinensischer Selbstmordattentäter Geld.

Diesen Kriegsbefürwortern - die Angriffe auf Israel mit Angriffen auf die USA gleichsetzten, als gäbe es zwischen beiden keinen Unterschied - reichte das aus, um eine ganze Region als potenzielle Brutstätte von Terroristen einzustufen. Aber weshalb, so fragten sie, bringt dieser Teil der Welt Terrorismus hervor? Da sie in ihrer ideologischen Verblendung weder die US-amerikanische noch die israelische Politik als Faktor erkennen konnten, sahen sie die wahre Ursache in etwas anderem: im Fehlen eines freien Marktes und der dazugehörigen Demokratie.

Da man nicht die ganze arabische Welt in einem Zuge erobern konnte, musste man ein einzelnes Land herausgreifen, das als Katalysator dienen sollte. Die USA sollten das Land besetzen und, wie Thomas Friedman, der wichtigste Verkünder dieser Theorie in den Medien, es ausdrückte, daraus "ein neuartiges Modell im Herzen der arabisch-muslimischen Welt" machen. Von dort aus sollte eine Reihe demokratisch-neoliberaler Wellen auf die gesamte Region ausstrahlen. Joshua Muravchik, Experte am American Enterprise Institute, prophezeite, es werde "ein Tsunami durch die arabische Welt" fegen, während der erzkonservative Michael Ledeen, Berater der Regierung Bush, das Ziel als einen "Krieg zur Neugestaltung der Welt" beschrieb.

Diese Theorie verband die Bekämpfung des Terrorismus mit der Verbreitung des Kapitalismus und freier Wahlen zu einem einzigen Projekt. Auf diese Weise wollte man gleichsam im Dreierpack den Nahen Osten von Terroristen "säubern", eine riesige Freihandelszone schaffen und schließlich auf Grundlage dieser Tatsachen Wahlen abhalten. George W. Bush fasste dieses Ziel später in einem einzigen Satz zusammen, als er sagte, es gehe darum, "einer unruhigen Region die Freiheit zu bringen".

Doch im Zentrum der "Modell"-Theorie stand immer nur jene Art von Freiheit, die man in den Siebzigerjahren Chile und in den Neunzigerjahren Russland angeboten hatte: die Freiheit westlicher Multis, sich aus dem Vermögen der frisch privatisierten Staaten zu bedienen. Was der Präsident meinte, machte er, nur acht Tage nachdem er die Hauptkriegshandlungen im Irak für beendet erklärt hatte, unmissverständlich klar, als er Pläne für "die Schaffung einer Freihandelszone zwischen den USA und dem Nahen Osten innerhalb eines Jahrzehnts" ankündigte. Die Leitung des Projekts übertrug er Dick Cheneys Tochter Liz, die sich bereits am Abenteuer der sowjetischen Schocktherapie beteiligt hatte.

Die Idee, einen Staat zu besetzen und zum Modell für die Region zu machen, kam nach dem 11. September auf. Damals standen zunächst mehrere Namen im Raum: der Irak, Syrien, Ägypten oder der Iran, Michael Ledeens bevorzugter Kandidat. Doch der Irak wies diverse Vorzüge auf: Abgesehen von den gewaltigen Ölreserven eignete sich seine zentrale Lage auch zur Einrichtung von Militärstützpunkten, zumal Saudi-Arabien nun nicht mehr so abhängig erschien. Außerdem fiel es leicht, Saddam Hussein wegen des Einsatzes von Giftgas gegen sein eigenes Volk zu hassen. Ein weiterer Faktor war die Tatsache, dass man den Irak gut kannte. Der Golfkrieg von 1991 war die letzte große Bodenoffensive der US-Streitkräfte mit hunderttausenden von Soldaten gewesen, und das Pentagon hatte die Schlacht seither ausgiebig für Ausbildungszwecke und elaborierte Kriegsspiele benutzt.

Der Irak wies noch einen weiteren Vorzug auf. Während das US-Militär eifrig davon träumte, die Operation Desert Storm mit technologischen Möglichkeiten zu wiederholen, deren Verbesserung dem "Unterschied zwischen Atari und PlayStation"entsprach, wie ein Kommentator es ausdrückte, hatten die militärischen Kapazitäten des Irak deutlich abgenommen - erodiert unter dem Einfluss der Sanktionen und nahezu zerschlagen durch das von den Vereinten Nationen durchgeführte Waffeninspektionsprogramm. Das hieß, im Vergleich zu einem Angriff auf den Iran oder Syrien war ein Krieg gegen den Irak offenbar noch am ehesten zu gewinnen.

Als die Konterrevolution der Chicagoer Schule dreißig Jahre zuvor erstmals den Schritt von den Lehrbüchern in die reale Welt unternahm, versuchte man gleichfalls, Nationen auszulöschen und an ihrer Stelle neue zu erschaffen. Wie der Irak 2003, so sollte Chile 1973 als Vorbild und Modell für einen ganzen rebellischen Kontinent dienen, und über viele Jahre war es auch so. Die brutalen Regime, die in den Siebzigerjahren die Ideen der Chicagoer Schule umsetzten, wussten sehr genau, dass zur Verwirklichung ihrer idealisierten Nationen in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien ganze Volksgruppen und deren Kultur "samt den Wurzeln" ausgerissen werden mussten. Aber die lateinamerikanischen Juntas handelten nicht allein: Es ist bestens dokumentiert, dass sie vor und nach ihren Staatsstreichen von Washington unterstützt wurden.

1976 etwa, dem Jahr des Militärputschs in Argentinien, als tausende von jungen Aktivisten aus ihren Wohnungen verschleppt wurden, genoss die Junta volle finanzielle Unterstützung aus der US-Hauptstadt. In diesem Jahr war Gerald Ford Präsident der Vereinigten Staaten, sein Stabschef war Dick Cheney, sein Verteidigungsminister hieß Donald Rumsfeld, und Außenminister Henry Kissinger hatte einen ehrgeizigen, jungen Assistenten namens Paul Bremer.

Diese Männer mussten sich nie vor einer Wahrheitskommission oder einem Gericht für ihre Rolle bei der Unterstützung der Militärjuntas verantworten und konnten sich langer, einträglicher Karrieren erfreuen - sogar so lange, dass sie dreißig Jahre später ein verblüffend ähnliches, wenn auch weitaus gewalttätigeres Experiment im Irak starten konnten.

In der Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeit 2005 beschrieb George W. Bush die Zeit zwischen dem Ende des Kalten Kriegs und dem Beginn des Kriegs gegen den Terror als "Jahre des Zurücklehnens und Ausruhens - und dann kam ein Tag des Feuers". NAOMI KLEIN

siehe tazzwei SEITE 14

Naomi Klein lebt als Publizistin in Toronto. Durch ihren Beststeller "No Logo!" stieg sie zur Stimme der Globalisierungskritik auf. Heute erscheint ihr neues Buch "Die Schock-Strategie" (S. Fischer), aus dem dieser Auszug stammt.

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