Jazz-Kolumne: Das schlimmste ist Kommerz ohne Hit

Wie organisiert man eine Karriere im Jazz? Warum hat Louis Armstrong sein Geburtsdatum gefälscht? Der New Yorker Journalist Gary Giddins weiß es. Er ist der wichtigste Jazz-Kritiker der USA.

Er konnte es zunächst einfach nicht glauben, dass Louis Armstrong gelogen haben sollte, als er den 4. Juli 1900 zu seinem Geburtstag erklärte. Für sein Buch "Satchmo: The Genius of Louis Armstrong" fand Gary Giddins jedoch heraus, dass Armstrong tatsächlich am 4. August 1901 geboren worden war. Er habe sein Geburtsdatum geändert, damit er früher heiraten, arbeiten und seinen Cousin adoptieren durfte, vermutet Giddins.

"Weather Bird" hieß seine vieldiskutierte, ganzseitige monatliche Kolumne, von 1973 bis 2003 war Giddins festangestellter Jazzredakteur der New Yorker Wochenzeitung Village Voice. Zusammen mit dem Pianisten John Lewis gründete er 1986 das American Jazz Orchestra, seine verschiedenen Bücher über die Geschichte des Jazz wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet, für Ken Burns Filmserie "Jazz" war er als Berater tätig. Heute ist Giddins freischaffender Autor, er gilt als einer der einflussreichsten amerikanischen Jazzkritiker, seine Bücher und Kolumnen erreichen viele Leser. In einem Apartmenthaus an der 15. Straße, Ecke 3. Avenue in Manhattan hat er eine schöne Wohnung, im Stockwerk drüber hat er sein Zweiraumbüro voller Tonträger und Bücher. Von seiner Wohnung ging er meist zu Fuß zur Voice, heute verbringe er die meiste Zeit in seinem Büro.

In den ersten 20 Jahren bei der Voice ging er viermal die Woche aus, er wollte einfach jeden Musiker erleben, der in New York etwas landen wollte, erzählt Giddins. So habe er eine ganze Reihe junger Musiker entdeckt, und er sei oft der Erste gewesen, der über sie geschrieben hat: David Murray war 20, als er ihn zum ersten Mal hörte. Man müsse eine gewisse Sturheit mitbringen, wenn man einem unbekannten Musiker helfen wolle, verrät Giddins - also schrieb er immer und immer wieder über David Murray. Daraufhin bekam der einen Plattenvertrag und die Leute begannen sich für ihn zu interessieren. Über Pioniere der freien Musik wie Muhal Richard Abrams, Henry Threadgill und Julius Hemphill hat Giddins sogar in eher konservativen Musikzeitschriften geschrieben, wofür diese ihn am liebsten gefeuert hätten. Es gibt keinen amerikanischen Kritiker, der auch nur annähernd so viel über Cecil Taylor geschrieben hat wie er.

Giddins hat ihn über 30 Jahre lang immer wieder besprochen, interviewt, Konzerte besucht. Anfangs habe man Taylor in den USA für Scharlatan gehalten. Doch er habe zumindest das amerikanische Taylor-Bild zurechtrücken können. Ekkehard Jost habe zur gleichen Zeit von Deutschland aus sehr viel für die Taylor-Rezeption getan, sagt Giddins. Heute gehe er nicht mehr auf Entdeckungstour, es sei denn, ein Vertrauter ruft ihn an. Ansonsten besuche er Konzerte von Leuten, die er mag. Die umstrittenste Kolumne war wohl das Stück über Wynton Marsalis, berichtet Giddins; dafür erhielt er später den Pulitzer-Preis. Viele Leser antworteten darauf sehr aufgeregt, nicht nur Wyntons Bruder. Doch Giddins bleibt dabei: Als Wynton Marsalis nach New York kam, habe sich dort viel geändert. Er sei der Ronald Reagan unter den Jazzmusikern gewesen, er redete konservatives Zeug, brachte die Anzuguniform zurück und propagierte alten Swing und entsprechende Kompositionsformen. Viele Musiker, die nicht mit ihm übereinstimmten, verstummten, sagt Giddins. Bloß nicht politisch werden, man könnte ja Widerspruch ernten.

Giddins sieht gerade junge Musiker in Gefahr. Vor zwei Jahren spielte Gerald Wilson mit seinem Orchester in New York und er hatte den damals 23-jährigen Trompeter Sean Jones dabei. Giddins war damals von dessen Talent so begeistert gewesen, dass er unbedingt über ihn schreiben wollte. Doch nun habe er zwei aktuelle CDs von Jones vorliegen, die eine sei eine solide, bluesbasierte Aufnahme, die zeige, was er könne, die andere kommerzieller Mist. Das Problem, das diese jungen Musiker heute haben, seien nicht die Kritiker, sagt Giddins - sie würden von halbgaren Produzenten verwirrt, die gierig nach Stars sind und sie dazu zwingen, ihr Talent in lausigen Kompromissen zu verschwenden. Er habe das oft erlebt, besonders tragisch bei dem von ihm hochgelobten Saxofonisten Arthur Blythe: Eine Platte, die nur aus kommerziellen Gründen gemacht wurde, es sei denn, sie werde ein Hit, könne mehr Schaden im Leben eines Künstlers anrichten als alles andere.

Wenn der Saxofonist James Carter in den Sechzigern gelebt hätte, wäre seine erste Platte wahrscheinlich als Sideman bei Freddie Hubbard gewesen, sagt Giddins über die große Jazzhoffnung des vergangenen Jahrzehnts. Nach 15 weiteren Sideman-Alben hätte Blue Note ihm dann die erste eigene Plattenaufnahme angeboten. Doch wenn heute ein 23-jähriger gut aussehender schwarzer Musiker nach New York komme, gäbe man ihm schnell einen Plattenvertrag und nach wenigen Jahren sei der Traum vorbei. Jetzt sei Carter ein Freelancer ohne guten Manager und Plattenvertrag, der ausgerechnet eine Orgel-Combo gegründet habe. Genau darauf hätten die Leute gewartet, ein bisschen Blues und Entertainment, und ein Kompromiss folge dem nächsten.

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