Interview Jörn Pyhel: "Die Solidarität nimmt weiter ab"

Die Gewerkschaft Ver.di darf nicht nur ein Service-Verein für seine Mitglieder sein. Sie muss sich auch in den Betrieben besser verankern.

Ver.di kriegt langsam kalte Füsse - ihnen laufen die Mitglieder weg. Bild: dpa

taz: Herr Pyhel, Ver.di verliert ständig Mitglieder - was kann die Gewerkschaft dagegen tun?

Jörn Pyhel: Sie muss ihre Mitglieder erst einmal verstehen - und Sozialforschung in den eigenen Reihen betreiben. Die Gewerkschaftsfunktionäre sind oft sehr weit weg von ihren Mitgliedern.

Aber da helfen doch nicht nur Meinungsumfragen?

Nein. Die Forschung zeigt, dass letztlich der persönliche Kontakt in den Unternehmen entscheidend ist, um Mitglieder zu halten und zu gewinnen. IG Metall und IG BCE haben nicht nur organisierte Betriebsräte vor Ort, sondern auch Vertrauensleute in den Firmen. Da muss Ver.di besser werden.

In den Gewerkschaften wird diskutiert, ob man eine Art ADAC werden sollte und den Mitgliedern verstärkt Service bietet.

Service ist wichtig. Aber es bindet keine Mitglieder, wenn man als Gewerkschaft besondere Konditionen für Mietwagen anbietet. Das geht an der Kernkompetenz vorbei.

Stichwort "Kernkompetenz": In der IG Metall wird das Modell ausprobiert, bei Lohnverhandlungen besondere Vorteile nur für Mitglieder herauszuhandeln. Sollte Ver.di dieses Bonussystem übernehmen?

Die Tarifboni adressieren ein Hauptproblem: die vielen Trittbrettfahrer, die nicht Gewerkschaftsmitglied sind, aber hinterher gern von den Lohnerhöhungen profitieren. Trotzdem führen die Tarifboni in die falsche Richtung. Die Gewerkschaften genießen eine besondere Legitimation, weil sie den Anspruch erheben, alle Arbeitnehmer zu vertreten. Davon hängt auch die politische Unterstützung ab.

Die politische Durchschlagskraft wollte Ver.di ja durch die Fusion verschiedener Gewerkschaften erhöhen. Stattdessen wirkt diese Riesenorganisation jetzt vor allem chaotisch. War die Fusion ein Fehler?

Nein. Die Fusion sollte Verwaltungskosten sparen. Und Verbände bleiben nur handlungsfähig, wenn sie mit ihrem Budget auskommen.

Aber bisher wurde doch kaum Personal eingespart.

Die Funktionäre haben tatsächlich eine sehr erfolgreiche Besitzstandswahrung betrieben. Aber irgendwann wird sich Ver.di dem ökonomischen Problem stellen müssen.

Ein Problem sind auch die kleinen Gewerkschaften wie Cockpit, die für ihre Spezialkräfte viel höhere Löhne heraushandeln. Wie soll sich Ver.di da verhalten?

Ich bin ratlos. Ich fürchte, dass die Erosion der Solidarität weitergeht. Kleine Gruppen von Experten werden sehr hohe Gehaltsforderungen durchsetzen - auf Kosten der restlichen Arbeitnehmer. Das erhöht den Druck auf Ver.di erneut: Das normale Mitglied wird sich fragen, warum es in der Gewerkschaft bleiben soll, wenn dabei so wenig herauskommt.

Ist dieser Zweifel nicht berechtigt? Ver.di-Mitglieder müssen zusehen, wie auch die Abschlüsse bei der IG Metall viel besser ausfallen.

In der Metallindustrie nimmt die Produktivität sehr stark zu. Deswegen ist dort langfristig mehr zu verteilen als bei den Dienstleistungen. Ich befürchte, dass sich in Zukunft die Löhne zwischen den Branchen noch stärker auseinanderentwickeln. Dadurch dürfte Ver.di weiter an Legitimation und Mitgliedern verlieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.