Reform des EU-Vertrags: Eine Nacht für eine neue Verfassung

In Lissabon entscheiden die Staatschefs über einen Reformvertrag für die EU. Aber selbst wenn alle Staaten unterzeichnen, ist der Weg zum Reformvertrag noch lang.

Einigung diesmal sogar mit Polen möglich: EU-Gipfel in Lissabon. Bild: reuters

LISSABON taz Lissabon könnte ein Zweihemdengipfel werden. Damit bezeichnen Diplomaten ein Treffen, bei dem sie voraussichtlich mit einer Übernachtung auskommen. Vor knapp vier Monaten in Brüssel war das ganz anders. Da hatten Merkel, Sarkozy und Co in den harten Verhandlungen mit den sturen Kaczinski-Brüdern aus Polen und dem ebenso dickköpfigen Tony Blair aus Großbritannien viele Hemden und Blusen durchgeschwitzt.

Der "Vertrag über die Europäische Union" und der "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" sollen künftig Rechtsgrundlage der EU sein. Demnach wird sich etliches ändern:

Bei Entscheidungen des Ministerrats gilt dann die doppelte Mehrheit. Eine qualifizierte Mehrheit ist dann zustande gekommen, wenn 55 Prozent der Staaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, einem Vorhaben zustimmen.

Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, wählt einen Präsidenten für zweieinhalb Jahre. Bisher wechselt der Vorsitz alle sechs Monate.

Für die Außenpolitik ist der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Er bekommt einen diplomatischen Dienst, leitet den Außenministerrat und wird Vizepräsident der EU-Kommission. Die Mitgliedsstaaten behalten wichtige außenpolitische Kompetenzen.

Das Europaparlament hat künftig 750 (bisher 785) Abgeordnete. Die Zahl der deutschen Abgeordneten sinkt von 99 auf 96.

Die Zahl der EU-Kommissare wird auf zwei Drittel der EU-Staaten gesenkt. Das wären bei derzeit

27 Mitgliedern 18 Kommissare.

Das Verhandlungsergebnis von damals, ein ziemlich präzises Mandat für eine Reform der Europäischen Verträge, ließ sich von den juristischen Fachleuten aus den Mitgliedsstaaten recht reibungslos in einen Änderungsvertrag verwandeln. Die Befürchtung, das kleine Portugal könne den Laden während seiner Präsidentschaft nicht so diszipliniert zusammenhalten wie das mächtige Deutschland, hat sich nicht bewahrheitet.

Dabei sah es mehrfach so aus, als könne an der unbeweglichen Haltung Polens das ganze Projekt noch scheitern. Als sich die innenpolitische Krise in Warschau zuspitzte und Neuwahlen angesetzt wurden, sollte der Gipfel sogar verschoben werden. Was sei schon von einer angeschlagenen polnischen Regierung zu erhoffen, die sich zwei Tage nach dem Lissaboner Treffen zu Hause würde den Wählern stellen müssen?

In einer Union von 27 Mitgliedern wird irgendwo immer gerade gewählt. Meist hat das zur Folge, dass die betreffende Regierung in Brüssel besonders auf den Putz haut und sich unnachgiebig zeigt. Das soll den Wählern zu Hause signalisieren: Eure Interessen sind in guten Händen. Die polnischen Wahlen könnten hingegen bewirken, dass sich die amtierende Regierung kompromissbereiter zeigt, als es sonst ihren Neigungen entspricht. Außenministerin Anna Fotyga wurde beim letzten Vorbereitungstreffen der Außenminister am Montag in Luxemburg dabei ertappt, wie sie lächelte und mit Journalisten Englisch sprach. Auch Kaczynskis Handkuss für Angela Merkel bei deren Treffen in Berlin wirkte fast liebevoll.

Wahlberater werden den Politikern der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit erklärt haben, dass es ihrem Image zu Hause schadet, wenn sie im europäischen Kreis immer als die sturen Provinztrottel dastehen, die lieber das gemeinsame Ganze gefährden, als kleine Zugeständnisse zu machen. Es könnte also sein, dass sich Polen mit einem symbolischen Sieg begnügt.

Die Ioannina-Klausel, die den Mitgliedsstaaten eine Aufschubmöglichkeit bei missliebigen Mehrheitsbeschlüssen gibt und von der nur einmal in der Geschichte der Union Gebrauch gemacht wurde, würde dann nicht in die EU-Verträge aufgenommen, sondern in eine Zusatzerklärung gepackt. So kann Kaczynski das Gesicht waren. Zugleich wäre der Stellenwert der Ausnahmeregel gemindert.

Viel schwieriger dürfte es werden, Italiens Forderungen zu befriedigen. Der neue EU-Vertrag sieht vor, dass das Europaparlament von 785 auf 750 Sitze verkleinert wird. Die Abgeordneten haben selbst einen Vorschlag ausgearbeitet, wie die Sitze künftig verteilt werden sollen. Deutschland als größtes Mitgliedsland gibt drei Sitze ab, bleibt aber mit 96 Abgeordneten die größte Gruppe. Italien, Frankreich und Großbritannien haben zurzeit je 78 Sitze. Künftig soll Frankreich 74 Sitze bekommen, Großbritannien 73 und Italien nur 72. Italiens Regierungschef Romano Prodi hat kürzlich bei einem Besuch in Brüssel zugesichert, den Gipfel nicht an dieser Frage scheitern zu lassen. Er verlangt aber, dass innerhalb von zwei Wochen neue Beratungen darüber beginnen, wie Italiens Forderungen nach Gleichbehandlung mit Frankreich und Großbritannien erfüllt werden können.

Auch Bulgariens Premier Sergei Stanischew hat ein Sonderproblem. Da Europa auf bulgarisch Ewropa heißt, möchte er die europäische Einheitswährung in bulgarischer Übersetzung nicht Euro nennen, sondern Ewro. Die Europäische Zentralbank hingegen argumentiert, die Währungsbezeichnung sei ein Markenzeichen und dürfe nicht verändert werden. Bulgarien drohte zunächst, alle europäischen Geschäfte zu blockieren, bis diese Frage geregelt ist. Sogar das Assoziationsabkommen mit Montenegro sollte auf Eis gelegt werden. Nun verlangen die Bulgaren, dass eine Arbeitsgruppe bis Ende November eine Lösung findet. Sonst wollen sie die bulgarische Version der neuen EU-Verträge nicht unterzeichnen.

Die italienischen und die bulgarischen Sonderwünsche zeigen, dass eine rasche Einigung in Lissabon längst nicht das Ende aller Probleme bedeutet. Selbst wenn am Ende alle 27 Mitgliedsstaaten den reformierten Vertrag unterzeichnen, müssen sie danach noch die Zustimmung ihrer nationalen Parlamente oder gar ein Referendum gewinnen. In Irland schreibt das die Verfassung vor. Der Nizzavertrag wurde von den Iren zunächst abgelehnt und erst im zweiten Anlauf durchgewinkt. In Dänemark und Großbritannien wird noch darüber debattiert, ob ein Referendum erforderlich ist. Nur Frankreichs Premier Nicolas Sarkozy hat von Anfang an erklärt, nicht die Bürger, sondern die Nationalversammlung über den neuen Vertrag abstimmen zu lassen.

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