Erasmus in Istanbul: Willkommen in Allahs WG

Der Plan ging ursprünglich so: ein Jahr studieren und feiern in Istanbul. Stattdessen wohnt Felix Rust jetzt in einer islamischen Wohngemeinschaft. Wie das so ist?

Cocktailkater Ausschlafen oder frühmorgens Beten - Istanbul hat für alle Platz. Bild: dpa

Immer mehr Deutsche konvertieren zum Islam - meint zumindest das Soester Zentralinstitut Islam-Archiv. Im Jahr 2005 zählte es 1.000 deutsche Konvertiten, 2006 waren es 4.000. Der Anstieg sieht imposanter aus, als er ist: Für die Zählung 2006 hat das Archiv lediglich mehr islamische Gemeinden befragt, als im Vorjahr. Dass durch einen solchen Wechsel der Zählmethode die Zahl der Konvertiten steigt, ist klar. Der Leiter des Archivs, Salim Abdullah, meint dennoch, die muslimische Gemeinde in Deutschland wachse kräftig: "Wenn der Islam in der Öffentlichkeit schlecht dasteht, treten die Menschen vermehrt zum Islam über." Aus Solidarität, so Abdullah. Laut Islam-Archiv sind von den derzeit 3,3 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen 18.500 deutschstämmig.

Ein kleiner Teppich, zwei Kissen liegen in der Zimmermitte. Am Geländer des Etagenbettes hängen zwei Gebetsteppiche. Durchs Fenster herein dringt das Gebell der Straßenhunde. Der Gesang der Muezzins mischt sich in den Tag. Tausende, meist verrostete Satellitenschüsseln auf der anderen Seite des Fensters - und ganz viel Himmel. Istanbul.

Felix Rust sitzt auf einem Kissen und lauscht dem Durcheinander der Gottesanbeter. "Wie soll man da ein Wort verstehen?" Er schüttelt den Kopf. Normalerweise sind es andere, die den Kopf schütteln. Denn selbst viele seiner Freunde verstehen Felix Rust nicht. Er lebt an einem Ort, wo das Paradies "Dschanna" heißt - im Männerwohnheim einer islamischen Bruderschaft.

Vorsicht: Dies ist eine ganz normale Geschichte von einem ganz normalen Nachbarn aus Remscheid in Nordrhein-Westfalen. Einem Studenten, einem, der stets nett grüßt und jetzt in einer islamischen Bruderschaft am Bosporus lebt - so fangen die Biografien von Terrorkonvertiten an. Doch keine Angst, diese Geschichte kommt ohne Feuerschwaden aus.

Felix Rust ist 25, groß gewachsen, sportlich, blond und schlägt zur Begrüßung mit der Hand ein. Er kaut Kaugummi. Felix Rust fastet. "Na ja, ich würde schon auch gerne was essen, aber " Es ist Ramadan, Fastenmonat. Zwischen Sonnenauf- und -untergang kein Essen, kein Wasser, kein Zähneputzen. Nichts, was lustvoll sein könnte. Zugegeben: Heute hat er schon ein Glas Wasser getrunken, gestern auch. Vorgestern hat er zwei Kekse gegessen. Und eben Kaugummi. Ein richtiger Muslim ist er offenbar nicht.

Felix Rust studiert Medizin. Und genau deshalb ist er über "Erasmus", das Hochschulaustauschprogramm, hierher gekommen. Istanbul boomt. Innerhalb der internationalen Erasmus-Generation gewinnt die Brückenstadt rasend an Attraktivität. Allein aus Deutschland zählt die Studierendengemeinde 134 Personen, die sich im Online-Portal "StudiVZ" für das laufende Wintersemester in Istanbul registriert haben. Jährlich kommen hunderte Studentinnen und Studenten aus ganz Europa an die zahlreichen Universitäten der Stadt.

Rust ist einer von ihnen. Doch wenn seine Erasmus-Kommilitonen im hippen, europäischen Stadtteil Beyoglu fancy Cocktails schlürfen und clubben gehen, dann muss Rust schon zu Hause sein: Wer um 22.30 Uhr nicht den Pförtner passiert hat, verbringt die Nacht draußen. Und ansonsten gilt: Kein Raki, kein Efes-Bier, nix mit Zigaretten oder Lüsternheit. Frauenbesuch ist, natürlich, streng verboten.

Morgens im Abendland hatte Rust nach durchzechten Nächten bevorzugt das Schlafkissen geplättet. Im Morgenland sieht es anders aus: Um vier Uhr wird aufgestanden, mitten in der Nacht, es gibt Frühstück, ehe die Sonne aufgeht und der Muezzin den Fastentag verkündet.

Dann beginnt sein Tag in Üsküdar, einem bunten, lauten Stadtteil auf der asiatischen Seite der Bosporus-Metropole. In den Straßen riecht es nach süßem Parfüm und Urin, gegrilltem Mais und Männerschweiß. Ab und an weht eine salzige Brise vom Bosporus herüber. Sein Morgengang führt ihn vorbei an Kolonnen von Gemüsewägen, Mandelständen, Teeverkäufern. Pistazien, Nougat, Baklawa, all das gibt es nicht für Felix Rust.

"Die Konditionierung, der Wille, sich selbst so zu disziplinieren, das fasziniert mich. Aber", sagt er dann, "das tue ich nicht für Allah, das tue ich für mich." Seit zwei Monaten lebt Rust in der Bruderschaft. Er ist der erste Erasmus-Student, der jemals im Wohnheim der "Stiftung des Heiligen Mahmud Hüdayi" untergekommen ist. Ein ungläubiger dazu. Felix Rust ist gar kein Muslim. Und er ist aus Zufall hier. Es war die Freundin eines Freundes an seiner Uni in Bonn, eine Türkin, die ihm bei seiner Wohnungssuche in Istanbul helfen wollte. Ihr Vater stellte den Kontakt her, schrieb ein Bewerbungs- und Empfehlungsschreiben an die Bruderschaft. "Ich wusste nicht, was das hier ist. Ich habe einfach Ja dazu gesagt."

Der Medizinstudent, der an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn im zehnten Semester studiert und jetzt an der Marmara-Universität Istanbul die Bücher wälzt, sagt Dinge wie: "Wenn ich rausgehe, dann geh ich gern zappeln und vorher gediegen vorglühen." Er meint damit: Eigentlich geht er gern tanzen - und auch gerne mal ein Bier trinken, oder drei. Nun sitzt er mit seinen Zimmernachbarn auf dem Teppich im Schneidersitz, sie trinken Tee. Auf einem Beistelltisch liegen Bücher: "Basics of Islam" oder "The Prophet of Mercy". Es ist Nacht.

"Die ganze Mackerei fällt aus, einfach mal ein paar Wochen keinen Proletentalk", sagt Rust. Und sieht zufrieden aus. Noch einen Schluck Tee. Dann setzt er nach: "Die halten sich ja schon die Augen zu, wenn im Film mal eine Frau halbnackt rumläuft." Er lächelt. Ob das immer so einfach ist, wenn es um Frauen geht? "Sicher nicht. Wenn wir etwa über Frauenrechte reden, dann wird es hier ganz schnell schwierig mit der Verständigung", sagt er.

"Das Urteilen stelle ich dennoch hinten an. Nun will ich erst mal Fragen stellen und kennen lernen, was ich nicht kenne", sagt der Medizinstudent. "Ich glaube, das könnte auch anderen nicht schaden." Gemeint ist eine Politik, deren Opfer er sein könnte. Der Nachbar aus Remscheid, einer, der immer so nett grüßt. Student, Islam, Bruderschaft: Verdachtsmomente.

Auf seinem Bett liegt ein Buch von Orhan Pamuk, "Istanbul". Rust liest sich durch Istanbuls vergangene Welten, die Pamuk beschreibt, während er selbst die türkischen Konflikte der Gegenwart erlebt: "Pamuk ist ein Lügner, der unsere Ehre beschmutzt", sagt Muhettin Namalir, Rusts Bettnachbar. "Wieso das?", fragt Rust. Dies ist so ein Moment, ab dem er nur noch Fragen stellt: "Die Lüge von den Armeniern? Wieso? Was war denn da?"

Muhettin Namalir, 21, stammt aus Ankara und studiert Business Administration und Internationale Handelsbeziehungen in Istanbul. Seit er elf ist, wird er von der Stiftung gefördert. Es begann mit der Koranschule, heute erhält er ein Studienstipendium von der Stiftung, die das Männerwohnhaus unterhält.

Er sagt: "Ich kenne die Menschen hier und die Strukturen. Ich mag sie. Deshalb bin ich hier. Die Leute denken wie ich. Alle hier sind gleich." Dann lacht er und schaut zu Felix Rust. "Na ja, nicht alle." Pause. "Wenn Studierende nicht genügend Kenntnisse über den Islam haben, hilft normalerweise die Stiftung", sagt Namalir. "Und sie erwartet einfach gar nichts von dir", ergänzt Ibrahim Clavijo, Rusts zweiter Bettnachbar. Rust runzelt die Stirn. Er weiß noch immer nicht, wo er hier eigentlich gelandet ist.

Binnaz Toprak, Politikprofessorin an der Bosporus-Universität Istanbul, nennt das so: "Natürlich stecken hinter solchen Strukturen bestimmte Interessen. Wenn es keine Indoktrination dort gibt, dann zumindest das Interesse, die Jungs fünfmal täglich zum Beten zu bewegen."

Rust betet nicht mit, er kaut Kaugummi. "Niemand hat mich gebeten, zu fasten."

Ibrahim Clavijo, 27, schmales Gesicht, ein Kolumbianer, lebt auch mit Rust auf einem Zimmer. Er heißt erst seit fünf Monaten Ibrahim. Vorher hieß er Carlos. "Mein muslimischer Onkel hat mir diesen Namen ausgesucht, nachdem mir klar geworden ist, dass ich dabei war, mein Leben zu vergeuden." Seine Geschichte ist eine Geschichte voller Begeisterung: Ibrahim Clavijo wird nicht müde zu betonen, wie abwegig seine Wandlung doch eigentlich sei, wie katholisch er erzogen worden sei, wie partymäßig er drauf war, wie besonders dieses helle Licht nun in ihm scheine. Er ist geläutert, konvertiert und glücklich. "Allah spricht dir direkt ins Herz."

Rust hört diese Stimme nicht. Felix Rust hat noch nie im Koran geblättert. "Ich glaube nicht an allein seligmachende Wahrheiten und monotheistische Religionskonzepte", sagt er, der allein unter frommen Muslimen lebt. "Es gibt für mich nicht das Absolute. Ich komme aus der Welt und ich bin Mensch", sagt er.

Dies ist eine einfache Geschichte, ganz ohne Fundamentalismus und Verletzte. Felix Rust will endlich mal wieder zappeln gehen. Und in aller Ruhe vorglühen. Er hat eine Wohnung gefunden und wird ausziehen. "Und ich hoffe, dass meine neuen Brüder mich mal besuchen kommen." Das ist alles.

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