Ein Jahr englisches "Al Jazeera": Kontroverse in der Kantine

Seit einem Jahr ist das englischsprachige Programm von "Al Jazeera" auf Sendung. Um sein Profil ringen britische und arabische Mitarbeiter wie am ersten Tag.

Anders als im arabischen Raum erwartet und erhofft: die Nachrichten von Al Jazeera English. Bild: reed/reuters

DOHA taz Kaum ein Fernsehsender ist von so viel Medienaufmerksamkeit begleitet auf Sendung gegangen wie Al Jazeera English. Auch ein Jahr nach dem Start am 15. November 2006 reisen fast täglich Journalisten an, um den modernsten Newsroom der Welt zu bewundern. Allein in der Zentrale in Doha, der Hauptstadt von Katar, arbeiten über 40 Nationalitäten. Ihr Programm erreicht rund 100 Millionen Haushalte. Das Feedback der Zuschauer von Malaysia bis Mexiko fällt sehr positiv aus - nur manche Muslime sind enttäuscht.

Denn Al Jazeera English ist anders als erwartet: international, aber kein bisschen islamisch. Kritisch, aber nicht wirklich kontrovers. Während der arabische Schwesterkanal gerade durch seine ungezähmte Berichterstattung zum Mythos wurde, will Al Jazeera English vor allem gefallen, am liebsten jedem. Das könnte dem Sender zum Verhängnis werden, denn noch immer ist die Grundsatzfrage ungeklärt: Soll der englische Sender dem Westen die arabische Sicht auf die Welt erklären? Soll er das Sprachrohr des Südens sein? Soll er auf den Ruf des arabischen Senders aufbauen - oder lieber beweisen, dass Al Jazeera nicht so schlimm ist, wie die Amerikaner behaupten?

Al Jazeera English soll all das gleichzeitig leisten - über die Prioritäten allerdings wird hinter den Kulissen hart gekämpft. Für die einen ist Al Jazeera English vor allem ein internationaler Nachrichtensender, der sich an BBC und CNN orientiert, aber mehr als diese aus Ländern berichtet, die sonst oft vergessen werden. Das Ziel sind hohe Einschaltquoten in Asien und Afrika. Für die zweite Fraktion verkörpert Al Jazeera die Hoffnung, Menschen aufrütteln zu können, vor allem jene im Westen, deren Aufmerksamkeit durch die Mainstreammedien von den wirklich wichtigen Themen hin zu Scheindebatten gelenkt würde. Statt Stereotype zu bedienen, möchten sie Menschen aus Gaza, Beirut und Bagdad eine Stimme geben, Zusammenhänge erklären und damit die Welt ein bisschen besser machen.

Wer zu welcher Gruppe gehört, ist leicht herauszufinden: Die Briten, die in Doha die Mehrheit stellen, fühlen sich von den Konflikten im Nahen Osten persönlich nicht betroffen, also auch selten zur Weltverbesserung berufen. Viele Araber dagegen sind angetreten mit dem Ziel, ihre Perspektive endlich auch denen zu erklären, die das Chaos im Nahen Osten nicht durchschauen.

Das deckt sich mit der Idee derer, die während der zweiten Intifada und des Irakkriegs eine englische Übersetzung des arabischen Programms gefordert hatten, damit die westliche Welt versteht, was unter Muslimen für so viel Wut sorgt. Doch mit einer einfachen Übersetzung ist es nicht getan: "Um das Gleiche auszudrücken, braucht man andere Worte", sagt Ibrahim Helal, einer der Direktoren von Al Jazeera English. Damit stößt er auf Ablehnung beim arabischen Sender von gegenüber, wo manche ihre Ideale verraten sehen und den englischsprachigen Kanal mit Misstrauen betrachten.

Dem Journalismus indes tut die Kontroverse gut, denn in keiner Kantine wird unter Kollegen so leidenschaftlich diskutiert wie bei Al Jazeera: Was ist islamistisch? Wer ist ein Widerstandskämpfer, wer ein Extremist oder gar Terrorist? Die Definitionshoheit liegt allein in der Hand der Journalisten. Der Emir von Katar ist zwar der einzige Geldgeber, hält sich aber inhaltlich heraus - wohl in der Hoffnung, der englische Sender möge Al Jazeera von dem ebenso hartnäckigen wie haltlosen Vorwurf befreien, ein Sprachrohr der Terrorszene zu sein. Nachrichtenchefredakteur Steve Clark verteidigt seinen Sender: "Ich habe 20 Jahre lang fürs westliche Fernsehen gearbeitet, aber so freien Journalismus wie hier habe ich noch nie erlebt."

Die journalistische Freiheit bewahrt Al Jazeera English jedoch nicht vor anderen Zwängen: Orientiert sich der Sender stärker an seiner legendären Schwester, liefert er zwar vielleicht das, worauf viele nicht arabisch sprechende Muslime warten, wird aber Schwierigkeiten haben, sich den nordamerikanischen Fernsehmarkt zu erschließen. Dort wagt bisher kein Kabelnetzbetreiber, Al Jazeera English in sein Angebot aufzunehmen. Setzt er sich jedoch noch stärker vom arabischen Sender ab, verliert er seine Glaubwürdigkeit bei all den Zuschauern, die im Einheitsbrei der Massenmedien nach etwas Bissfestem suchen. Erfolg bedeutet hier eine journalistische Gratwanderung - doch wenn sie irgendwo gelingen kann, dann bei Al Jazeera.

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