Das seltsame Opfer

„Ich bin die Nachricht geworden“: Erst ging sie für die Pressefreiheit ins Gefängis, jetzt verlässt Star-Reporterin Judith Miller die „New York Times“

Zunächst gefeiert, dann heftig kritisiert: Unter ihren Kollegen bei der „Times“ galt Miller als „unkontrollierbar“.

Aus Washington Adrienne Woltersdorf

Die Affäre, die zurzeit das Weiße Haus erschüttert, hat nun auch zur Demission der Starreporterin der New York Times geführt. Judith Miller, zunächst gefeiert, dann heftig kritisiert, hat ihren Job bei der angesehensten Zeitung der USA geschmissen. Das teilte das Blatt am Mittwoch mit. Chefredakteur Bill Keller würdigte Judith Miller als Kollegin, die in ihren 28 Jahren bei der Times Entschlossenheit und Mut bewiesen habe.

Dem Abgang war eine bittere Auseinandersetzung zwischen den beiden vorausgegangen. Sie könne nicht mehr als Reportin für die Times arbeiten, nachdem sie selbst zur Nachricht geworden sei, schrieb die 58-jährige Pulitzer-Preisträgerin in einem Abschiedsbrief, der auf ihrer eigenen Webseite zu lesen ist (www.judithmiller.org).

Miller gehört zu den zentralen Figuren im Regierungsskandal um die Enttarnung einer CIA-Agentin. Die Affäre wurzelt im Streit um den Irak-Krieg. Die Identität der Agentin war im Sommer 2003 an Journalisten verraten worden, nachdem ihr Ehemann, der frühere US-Botschafter im Irak, Joseph Wilson, sich in dieser Kontroverse gegen die Regierung gestellt hatte.

Konkret trat Wilson der falschen Behauptung von US-Präsident George W. Bush entgegen, der frühere irakische Machthaber Saddam Hussein habe sich in Niger waffenfähiges Uran zu beschaffen versucht. Die Enttarnung seiner Ehefrau wurde damals von vielen Beobachtern als Racheakt des Bush-Lagers an Wilson gedeutet, weil seine Frau Valerie Plame damit nicht mehr länger als Undercover-Agentin arbeiten konnte.

Miller selbst war innerhalb der Times-Redaktion umstritten, weil sie mehrere Artikel über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak geschrieben hatte, die sich später als falsch herausstellten. Miller hatte sich zunächst geweigert dem Untersuchungsausschuß über ihre vertraulichen Gespräche mit Informanten aus dem Weißen Haus Auskunft zu geben. Deshalb saß sie im Sommer 85 Tage im Gefängnis. Mitte Oktober dann erklärte sich Miller bereit, ihren Informanten Lewis „Scooter“ Libby, der Stabschef des Vizepräsidenten Dick Cheney, zu nennen. Kurz zuvor hatte dieser sie angeblich von ihrer Zusage der Vertraulichkeit entbunden.

Inzwischen ist Libby wegen Falschaussage und Behinderung der Justiz bei der Untersuchung der Affäre angeklagt. Er hatte bei den Ermittlungen angegeben, den Namen der Agentin von Reportern erfahren zu haben. Tatsächlich aber soll die Agentin durch Libby in Gesprächen mit Journalisten, darunter Miller, gezielt und damit illegal „enttarnt“ worden sein. Als Miller sich demonstrativ dazu entschied, für ihr Recht auf Informantenschutz ins Gefängnis zu gehen, stilisierte die Times Millers Entschluss zum Opfergang für die Pressefreiheit hoch.

Nach Millers Aussage vor dem Sonderermittler warf Chefredakteur Keller ihr jedoch vor, die KollegInnen über ihre Kontakte mit Libby getäuscht zu haben – was Miller heftig bestreitet. Wie einem seitenlangen Artikel der Times-Redaktion Mitte Oktober zu entnehmen war, galt sie unter ihren KollegInnen als „unkontrollierbar“.

Herausgeber Arthur Sulzberger nahm Millers Kündigung dankend an und lobte ihr „beträchtliches persönliches Opfer, um ein journalistisches Prinzip zu verteidigen“. Ein Anwalt Millers bezeichnete die in den letzten Wochen verhandelte Aufhebungsvereinbarung als einvernehmlich. Zu weiteren Stellungnahmen war die Times nicht bereit.

Der Miller-Skandal ist für die traditionsreiche New York Times eine schwere Image-Schlappe. Chefredakteur Keller schreibt in der eigenen Zeitung, dass die Times durch ihre zögerliche Klarstellung der falschen Berichte über die Massenvernichtungswaffen des Saddam-Regimes „beschädigt“ wurde. Dieser Affäre vorausgegangen war 2002 der Jayson-Blair-Skandal. Der junge Reporter Blair hatte in der Times dutzende Geschichten erfunden. „Sie taumeln von einer Misere zur nächsten“, kommentierte der Medienkritiker von Vanity Fair, Michael Wolff, „die Times hat ein massives Führungsproblem“.