Bütikofer über die Grünen: "Wir machen nicht auf Retro-Linke"

Am kommenden Wochenende soll ein Grünen-Parteitag den "Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit" beschließen. Parteichef Reinhard Bütikofer wirbt für das 60-Milliarden-Euro-Programm.

Bütikofer mit Parteikollegin Claudia Roth. Bild: dpa

taz: Herzlichen Glückwunsch, Herr Bütikofer, Sie haben sich offenbar entschieden, 2009 auf Rot-Rot-Grün zu setzen.

Was kommt nach Hartz IV? Diese Frage steht im Mittelpunkt des Parteitags der Grünen von Freitag bis Sonntag in Nürnberg. Der Bundesvorstand unter Reinhard Bütikofer und Claudia Roth möchte, dass sein Leitantrag mit dem Titel "Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit" beschlossen wird. Kernpunkte: Erhöhung der Hartz-IV-Leistung auf 420 Euro, Verbesserung des Bildungssystems. Alles zusammen würde rund 60 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Das bedingungslose Grundeinkommen für alle lehnt der Vorstand ab. Die Befürworter des Grundeinkommens wollen den Leitantrag deshalb ändern.

Reinhard Bütikofer: Wie kommen Sie denn da drauf? Das meinen Sie doch selbst nicht ernst.

Wenn man sich Ihren Leitantrag für den Parteitag am Wochenende durchliest - ein Sozialprogramm, das weit mehr als 60 Milliarden Euro kosten soll -, kann man zu diesem Schluss kommen.

Was hat unser Antrag mit Rot-Rot-Grün zu tun? Wir machen nicht auf Retro-Linke. Im Gegensatz zur Linken fordern wir nicht populistisch, Hartz IV muss weg. Wir setzen uns mit den Reformen auseinander, die wir unter Rot-Grün mitgetragen haben. Wir bleiben ganz klar dabei: Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe war richtig. Das habe ich von der Linken noch nie gehört, und bei der SPD-Linken bin ich mir auch nicht sicher, ob alle das heute noch so sagen.

Die öffentliche Resonanz auf den Leitantrag des Vorstandes lautet: Er gehört ins Wolkenkuckucksheim. Selbst Linke aus Ihrer eigenen Partei bezweifeln hinter vorgehaltener Hand die realpolitische Machbarkeit.

Wenn man einen sozialpolitischen Aufbruch will, muss man erstens die Konsequenz aus der Analyse der Sozialverbände ziehen, nämlich dass das Existenzminimum derzeit bei Hartz IV nicht gewährleistet ist. Zweitens braucht es dafür massive Investitionen in öffentliche Infrastruktur, angefangen bei der Kinderbetreuung - und das kostet Geld, ja! Die 60 Milliarden Euro, von denen wir reden, setzen erhebliche Verteilungskämpfe voraus. Aber wenn wir nicht bereit wären, dafür einzutreten, dann wäre das Wolkenkuckucksheim.

Woher soll das Geld denn kommen?

Ich bin bereit, darum zu kämpfen, dass Steuern auf Erbschaften drastisch erhöht werden. Dann hätten wir schon mal statt 4 Milliarden Erbschaftsteuer 8 Milliarden. Es muss auch eine Korrektur beim Ehegattensplitting geben. Und wir fordern einen höheren Spitzensteuersatz von 45 Prozent.

Die 60 Milliarden Euro sind mehr als das Doppelte dessen, was die große Koalition durch die Mehrwertsteuererhöhung eingenommen hat. Ein bisschen mehr Erbschaftsteuer und Spitzensteuer reicht nicht.

Stimmt, aber da enden ja unsere Vorschläge auch nicht. Es wird nicht ohne Auseinandersetzungen gehen. Etwa um eine bundeseinheitliche Steuerverwaltung. Eine zusätzliche Möglichkeit wäre: der Solidarbeitrag für Ostdeutschland. Der wird auslaufen. Den kann man dann in Frage stellen, zum Schuldenabbau nutzen - oder in Investitionen stecken, zum Beispiel für Bildung. Ich plädiere für Letzteres.

Haben Sie denn keine Angst, dass Sie damit die besser verdienenden urbanen Grünen-Wähler vergraulen - die müssen Ihr Programm ja letztlich bezahlen?

Wir reden nicht über allgemeine Steuererhöhungen an jeder Ecke, sondern wir wollen konkret einen Spitzensteuersatz von 45 Prozent. Das stand schon in unserem Bundeswahlprogramm, und dafür haben wir mehr als 8 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Und die Erbschaftsteuer entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl grüner Anhänger. Die Vermögensverhältnisse dürfen nicht so weit auseinanderklaffen, dass die demokratische Substanz dieser Gesellschaft unterspült wird.

Mit wem wollen Sie Ihr 60-Milliarden-Programm durchsetzen?

Wir wollten jetzt erst mal unsere Grünen-Perspektive klarmachen und uns dann nach Mitstreitern umsehen. Im Moment sind die Ansätze zu so einer Debatte in der SPD noch relativ bescheiden. Allerdings hat Parteichef Kurt Beck mit seinem Vorstoß zum ALG I klargemacht, dass man jetzt wenigstens wieder diskutieren darf, wohin die Reise gehen soll. Auch wenn er dabei die falschen Prioritäten setzt. Es ist gut, dass gerade in der SPD endlich wieder eine Diskussion über Sozialpolitik stattfindet. Wir haben damit schon früher begonnen. Die Linkspartei lassen wir mal weg: Die übt sich weiter in Modernisierungsverweigerung.

Die SPD macht Ihnen Hoffnung - aber für Rot-Grün allein wird es 2009 nicht reichen. Was dann?

Grundsätzlich gilt: Wir Grüne machen uns von niemandem abhängig. Wir werden das an inhaltlichen Eckpunkten entscheiden: Atomausstieg, Mindestlohn, Verteidigung der Bürgerrechte. Nüchtern gesehen, gibt es also wenig Übereinstimmung mit der Union.

Bleibt nur ein Dreierbündnis mit der FDP. Die wird sich freuen über Ihr 60-Milliarden-Programm und Ihre Steuererhöhungspläne.

Wenn die FDP irgendwas von Freiheit begriffen hätte, dann würde sie anerkennen, dass wir in einem Gemeinwesen leben, das einem wesentlichen Teil seiner Bürger den Zugang zur Selbstbestimmung verweigert. Nirgendwo ist der Zugang zum Bildungssystem so stark vom sozioökonomischen Hintergrund abhängig wie in Deutschland. Da kann von Verwirklichung von Freiheit nicht die Rede sein.

Ein Bündnis mit der FDP 2009 ist unwahrscheinlich, mit der Union und der Linken ebenso. Mit der SPD allein werden die Grünen keine Mehrheit erreichen. Besteht das eigentliche Problem darin, dass Sie für 2009 keine plausible Machtoption haben?

Im Gegenteil: So, wie es gegenwärtig aussieht, gibt es ohne Beteiligung der Grünen nur die Fortführung der großen Koalition. Denn selbst im bürgerlichen Lager glaubt kaum einer, dass es für Schwarz-Gelb reicht. Wir können der Wahl also durchaus mit Selbstvertrauen entgegensehen.

Die schlechte Nachricht ist, dass es 2009 wahrscheinlich keine Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen gibt. Merkel gewinnt die Wahl und wird mit der Regierungsbildung beauftragt. Die Grünen könnten dann höchstens überlegen, ob sie Mehrheitsbeschaffer für "Jamaika" werden wollen.

Für niemanden von uns ist eine schwarz-gelb-grüne Koalition attraktiv. Aber: Die Union hat 1969 auch die meisten Stimmen bekommen und trotzdem nicht den Kanzler gestellt.

Sie müssen Ihren Wählern doch irgendeine Option bieten. Warum sollten sie sonst Grün wählen?

Also bitte, ein bisschen mehr historischen Optimismus! Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Bundesregierung sich heute dafür rechtfertigen muss, dass sie ihr Klimaziel von 40 Prozent CO2 Einsparung bis 2020 nicht erreichen kann? Und als wir mit den Umweltverbänden die Stromwechselkampagne vor einem Jahr begonnen haben, wurden wir verspottet - heute ist das eine Massenbewegung geworden. Wer garantiert Ihnen also, dass sich bis 2009 nicht die Erkenntnis durchsetzt, dass wir so einen sozialpolitischen Aufbruch brauchen? Dann finden wir unseren Partner schon.

Ist es klug, das Thema Sozialpolitik so in den Vordergrund zu stellen? Sind Linke und SPD da nicht schon in einen Überbietungswettbewerb eingetreten, wo die Grünen kaum etwas gewinnen können?

Wir wären schief gewickelt, wenn wir das Thema Soziales links liegen lassen würden. Ich glaube, dass auch die ökologische Reform nur eine Chance hat, wenn sie sich mit dem Sozialen verknüpft. Es darf nicht passieren, dass Ökologie etwas ist, was man sich leisten können muss.

Warum hat sich auf dem chaotischen Parteitag in Göttingen eigentlich keiner der fünf in Frage kommenden

vielleicht kommen auch noch mehr in Frage, woher wissen Sie das?

des Führungsquartetts plus Jürgen Trittin hingestellt und Machtanspruch angemeldet?

Die Frage versteh ich nicht.

Joschka Fischer hätte es geschafft, den Parteitag auf seine Seite zu ziehen.

So? Ich habe meine Position klar vertreten und dafür gekämpft. Und ich glaube nach wie vor, dass es möglich gewesen wäre, die Delegierten hinter den Vorschlag zum Afghanistaneinsatz zu bringen, wenn wir als Führungsteam gut kooperiert hätten. Das Problem war, dass nicht alle, die vorher gesagt haben, das ist der Weg, dies genauso deutlich den Delegierten gesagt haben.

Intrigen?

Nein.

Sie glauben, dass Sie in Nürnberg die Basis im Griff haben, dass so etwas nicht mehr vorkommt?

Also wirklich, es geht doch nicht darum, irgendwen im Griff zu haben, sondern darum, diese Kontroverse in der Sache zu entscheiden. Diesmal ist es insofern anders, als wir diese breite Debatte über Sozialpolitik selbst vor einem Jahr ins Leben gerufen haben. Das ist nichts, was die Basis der Führung abringen musste - wie den Sonderparteitag in Göttingen.

Wollen die Grünen das überhaupt - Führung?

So eine Führung wie bei der Union oder SPD in den letzten Jahren - das wollten die Grünen nie! Diese Partei gibt es nicht, ohne ihre ganzen selbstständig denkenden Köpfe und Querköpfe. Das ist unsere Stärke, auch das macht uns aus.

INTERVIEW: HANNES KOCH UND KATHARINA KOUFEN

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