Jüdische Gemeinden in Deutschland: Zoff ums fremde Geld

Aus wohlverstandener historischer Verantwortung unterstützen Bund, Städte und Länder die jüdischen Gemeinden. Das fördert die Abhängigkeit - und häufig finanziellen Leichtsinn.

Synagoge in Berlin: Ein Dauerstreit zermürbt die Jüdische Gemeinde, nicht nur in der Hauptstadt. Bild: dpa

BERLIN taz Es braucht nicht viel, um Arkadi Schneiderman zur Weißglut zu bringen. Eine harmlose Frage zum Thema Gideon Joffe reicht - schon explodiert der 72-Jährige. Obwohl er der Stellvertreter des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist, poltert er: "Joffe prostituiert sich! Wer ist sein Sponsor?" Der glatzköpfige Schneiderman steht, wie üblich umringt von Anhängern, vor dem Festsaal der Hauptstadtgemeinde. Soeben haben sich hier, in der Nähe des Kurfürstendamms, die ersten Kandidaten für die Wahl des Gemeindeparlaments am Sonntag vorgestellt. Schneiderman ist auf Betriebstemperatur. "Mit diesem Jungen bin ich fertig", schimpft er über den 35 Jahre alten Joffe, den er einst selbst an die Macht gebracht hat. "Morgen muss er stempeln gehen." Dass Joffe noch einmal Vorsitzender werde, könne der sich "abschminken".

Die Wahl: Die 12.000 Berliner Jüdinnen und Juden wählen am Sonntag ein neues Gemeindeparlament. Um die 21 Sitze in der Repräsentantenversammlung bewerben sich 63 Kandidaten aus vier Wahlbündnissen. Das Gemeindeleben ist seit Jahren von Konflikten geprägt, eine Spaltung wird immer wahrscheinlicher.

Das Geld: Die Berliner Jüdische Gemeinde verfügt über einen 25-Millionen-Euro-Etat. Den überwiegenden Teil gibt das Land. Dennoch besteht ein Millionendefizit. "Wir werden von Nichtjuden bezahlt, um Juden zu sein", kritisiert der frühere Gemeinderabbiner Rothschild, "ein solches System macht keine guten Juden."

Viele jüdische Gemeinden in Deutschland haben große Probleme - Berlin hat Arkadi Schneiderman. Der frühere Journalist und Fallschirmjäger der israelischen Armee ist die graue Eminenz und der größte Querulant der Jüdischen Gemeinde Berlins. Mit über 11.000 Mitgliedern ist sie die größte Gemeinde der Bundesrepublik, mit ihren neun Synagogen, zwei Gemeindehäusern, vier Friedhöfen, einem Senioren- und einem Pflegeheim, der Volkshochschule und zwei Schulen könnte sie der Stolz des Judentums in Deutschland sein. Doch der Dauerstreit in der Leitung, ausgetragen in der Öffentlichkeit und vor Gericht, hat die Berliner Gemeinde zermürbt. Hunderte Mitglieder sind in den vergangenen Jahren ausgetreten.

Bei der Vorstellung der 63 Kandidatinnen und Kandidaten für das Gemeindeparlament verzichtet kaum einer darauf, seine Scham über diese Zustände zu bekunden - und Einheit anzumahnen. Das Misstrauen untereinander war sogar so groß, dass es nötig erschien, im Losverfahren die Reihenfolge festzulegen, in der sie sich vorstellen. Bei der letzten Sitzung Mitte Oktober stritten sich die 21 Parlamentarier, Repräsentanten genannt, coram publico eine Stunde nur über die Tagesordnung.

Das Problem ist nicht allein der streitbare Arkadi Schneiderman - worum gezankt wird, betrifft im Kern alle jüdischen Gemeinden Deutschlands. Der liberale Rabbiner Walter Rothschild, selbst einst Mobbingopfer der Berliner Gemeinde, hat die Ursache des Problems in der Jüdischen Zeitung dargelegt: "Die Gemeinden hier [] bekommen den Großteil ihrer Gelder, manchmal sogar alles, von der öffentlichen Hand. Wir werden von Nichtjuden bezahlt, um Juden zu sein! Ein solches System macht keine guten Juden." Sätze wie diese sind heikel, sie sind Wasser auf die Mühlen von Antisemiten. Dennoch ist viel dran an Rothschilds Analyse, denn sie offenbart die Krise, in die das Judentum in Deutschland trotz scheinbarer Blüte gerutscht ist.

Tatsächlich kommen meist weniger als 10 Prozent der Einnahmen der jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik aus den der Kirchensteuer vergleichbaren Synagogensteuern, heißt es beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Seit 1991 seien zwar 220.000 Menschen als jüdische "Kontingentflüchtlinge", so der offizielle Ausdruck, vor allem aus den GUS-Staaten, nach Deutschland gekommen. Doch nur 90.000 von ihnen haben sich in den 112 Gemeinden angemeldet. Immerhin, auch diese 90.000 sichern das Überleben der jüdischen Gemeinden. Ohne sie gäbe es statt der derzeit 110.000 Mitglieder nur noch 12.000.

Aus wohlverstandener historischer Verantwortung unterstützen Bund, Städte und Länder die jüdischen Gemeinden stark - dies aber fördert die Abhängigkeit. Und häufig finanziellen Leichtsinn. In Berlin zum Beispiel verfügt die Gemeinde über einen 25-Millionen-Euro-Etat. Immer wieder päppeln wertvolle Immobilien, etwa aus Restitutionen in der Folge des Holocaust oder aus Erbfällen, das Budget auf. Dennoch plagt man sich mit einem Millionendefizit. In Jahrzehnten wurde die Verwaltung aufgebläht, rund 400 Menschen arbeiten in der Gemeinde. Wer schon einmal mit diesem Apparat zu tun hatte, kennt den sowjetisch geprägten Schlendrian und die Beamtenarroganz, die an vielen Stellen Einzug gehalten haben. Dabei hat Letzteres eine gewisse Logik - 80 Prozent der Gehälter zahlt das Land Berlin.

Das viele fremde Geld führt zu, vorsichtig formuliert, Gedankenlosigkeit bei den Ausgaben. Öffentlich bekannt wurde etwa der Fall des designierten stellvertretenden Sicherheitsbeauftragten der Gemeinde. Er soll monatliche Handykosten von 870 Euro und Schulungskosten von knapp 50.000 Euro geltend gemacht haben. Nachdem ruchbar wurde, dass mehrere Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen den Mann laufen, verzichtete Joffe auf dessen Einstellung.

Mit den Worten "Ich bin ihm sehr dankbar" verteidigte der Gemeindevorsitzende bei seiner Kandidatenvorstellung zugleich Abfindungskosten von 40.000 Euro an einen bei der Gemeinde angestellten Arzt, der laut Joffe bis zur Rente 110.000 Euro Jahresgehalt erhalten hätte, ohne dass er laut Arbeitsvertrag überhaupt zum Dienst hätte erscheinen müssen.

Ein irritierendes Licht auf die Buchführung wirft auch die Tatsache, dass die Liste "Hillel", zu der auch Joffe gehört, in ihrem Wahlprogramm fordert: "Ausschreibungspflicht für Aufträge ab 25.000 Euro und nicht erst ab 125.000 Euro".

Vizechef Arkadi Schneiderman wiederum ließ sich die Prozesse, die er - meist gegen andere Gemeindemitglieder - führte, von der Rechtsschutzversicherung der Gemeinde bezahlen. Dennoch blieb diese anschließend immer noch auf 3.000 Euro Selbstbeteiligung sitzen. Schneiderman rechtfertigte dies bei der Kandidatenvorstellung mit der Frage: "Habe ich das nicht verdient - dreitausend?"

Übrigens: Es gibt einen Finanzdezernenten der Gemeinde, Alexander Licht. Der gebürtige Ukrainer war früher Geschäftsführer eines Inkassounternehmens und ist jetzt auf Schneidermans Wahlliste "Tachles" für den Vorsitz vorgesehen. Auch gegen Licht gab es schon Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Der Berliner Senat scheint Lichts buchhalterischen Fähigkeiten nicht recht getraut zu haben und stellte - ein ungewöhnlicher Vorgang - in Lichts bisheriger Amtszeit monatelang zwei Beamte frei, um Ordnung in die Gemeindefinanzen zu bringen. Mit mäßigem Erfolg. In der aufwendig produzierten Wahlzeitung der Gemeinde schreibt Licht: "Jede Aktivität der Gemeinde ist geldabhängig, alles andere ist Polemik."

Das Absurde an alldem ist: Eigentlich ist die Gemeinde arm - zumindest sind es viele ihrer Mitglieder. Auch in diesem Punkt unterscheidet sich Berlin nicht von anderen Gemeinden. Nach Schätzungen des Zentralrats sind etwa drei Viertel aller Zuwanderer von Sozialhilfe abhängig. Viele sind arbeitslos, weil ihre Diplome hier wertlos sind, ihr Deutsch zu schlecht ist oder sie schon zu alt sind; die Hälfte von ihnen ist älter als 50 Jahre. Auch deshalb werden die Einnahmen aus der Synagogensteuer in den kommenden Jahren weiter sinken. Denn wer arbeitslos oder in Rente ist, zahlt - wie bei den Kirchen - keine Steuer.

Neben dem fremden Geld ist es auch das - weltweit fast einzigartige - Prinzip der Einheitsgemeinde, das immer wieder zu Streit führt. In Deutschland sind in der Regel alle Juden einer Stadt, unabhängig von ihrer Herkunft oder spirituellen Richtung, gezwungen, sich unter dem Dach der einzigen Gemeinde vor Ort zurechtzufinden. International üblich ist, dass die Gläubigen jeweils mit Gleichgesinnten ihre eigene, unabhängige Synagogengemeinschaft gründen.

In kleineren Gemeinden mag das angehen, weil die meisten Mitglieder eh aus den GUS-Staaten kommen und orthodox sind. In Berlin aber prallen die Gegensätze ob der vielen unterschiedlichen Synagogen und Vereine innerhalb der Gemeinde aufeinander. Ein Zerfall der Einheitsgemeinde ist deshalb nicht unwahrscheinlich, erste Tendenzen in diese Richtung gibt es bereits.

Zunächst aber ist eine Schrumpfung und Konzentration der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu erwarten. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, hat schon vor zwei Jahren gesagt: "Wenn wir von 89 Gemeinden in 20 Jahren noch 40 übrig haben, können wir glücklich sein; ich halte 10 bis 15 für realistischer." Inzwischen geht Kramer davon aus, dass in zwanzig Jahren die Zahl der Juden in Deutschland um etwa ein Viertel gesunken sein wird. Die glorreichen Jahre sind also vorbei.

Trotz der düsteren Lage lassen sich die Berliner nicht verdrießen, sie feiern lieber. Am Montag lud die Wahlliste "Hillel" des Vorsitzenden Gideon Joffe alle Gemeindemitglieder zu einem "Galakonzert" in die plüschige Komödie am Kurfürstendamm. Eintritt, auch mit Begleitperson, frei. Die Kandidaten sangen mit Hilfe eines professionellen Sängers auf der Bühne jüdisch-israelische Evergreens wie "Hewenu schalom alechem", und Joffe ließ sich von Ehrengästen wie Lea Rosh preisen.

Die Liste "Atid" von Spitzenkandidatin Frida "Lala" Süsskind lud am Mittwochabend 750 Gäste in den Großen Saal der Urania zu einer Wahlparty ein. Motto: "Die beliebtesten jüdischen Hits", Ehrengast: Michel Friedman. Geld für Wahlkampf ist offenbar da. Auf Nachfrage erklärt "Atid", die eigene Kampagne habe eine niedrige fünfstellige Summe gekostet.

Und die Zukunft? Bei der Kandidatenvorstellung am Montag wagte nach anderthalb Stunden ein Jugendlicher, eine Frage zu stellen: "Denken Sie, dass die Gemeinde eine Zukunft hat, wenn es so weitergeht?" Eine rechte Antwort wusste keiner der Anwesenden. Auch Joffe konnte nicht antworten. Er hatte sich wegen des "Galakonzerts" in der Komödie am Kurfürstendamm schon vorher verabschiedet.

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